Gastbeitrag von Dr. Davide Brocchi, 17.2.24 (erstmals veröffentlicht als Input für Info der unabhängigen Grünen Linken)
Alexei Nawalny. Ich komme aus einem Land, in dem störende Andersdenkende lange ermordet wurden. Dazu zähle ich zum Beispiel Pier Paolo Pasolini.
Vor wenigen Jahren wurde Jamal Khashoggi bei lebendigem Leib zersägt. Italien hat immer noch mit Ägypten zu kämpfen, um die dortigen Geheimdienstmitarbeiter zur Rechenschaft zu ziehen, die den Studenten Giulio Regeni umbrachten (er erforschte die Gewerkschaften in Ägypten für seine Doktorarbeit). Julian Assange stirbt langsam im Gefängnis. Und Putin hat sich gerade von einem politischen Gegner befreit. Nicht dass ich das nationalistische Weltbild von Nawalny geteilt hätte, aber das spielt hier keine Rolle. Es geht hingegen darum: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg).
Wie geht es den Andersdenkenden in Deutschland?
Auf jeden Fall werden sie nicht umgebracht, nicht eingesperrt und nicht verfolgt: Das ist eine große zivilisatorische Errungenschaft.
Gleichzeitig hat „das System“ gelernt, die öffentliche Meinung so zu beeinflussen und zu lenken, dass man Andersdenkenden kaum als Risiko betrachten muss.
Sie bekommen lediglich Zugang zu bescheidenen Teilöffentlichkeiten, die schnell unter Quarantäne gesetzt werden, indem man sie in einer bestimmten Art und Weise etikettiert.
Systemkonforme Denker bekommen hingegen die großen medialen Bühnen zur Verfügung gestellt (Talkshow, Leitmedien usw.).
Um diese künstliche Polarisierung bewusst zu machen, zwei Beiträge mit entgegengesetzten Positionen zum gleichen Thema (Ukraine-Krieg).
Ein Andersdenkender ist der ehem. NATO-General Harald Kujat, der in Berlin einen spannenden Vortrag über die geopolitischen Entwicklungen gehalten hat, kurz vor Beginn der jetzigen Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Sein Fazit: Entweder gibt es eine friedliche diplomatische Lösung im Ukraine-Konflikt oder die Gefahr steigt, dass der Ukraine-Krieg europäisiert wird und immer weiter eskaliert. Mit eigenen Truppen wird die Ukraine den Krieg nicht gewinnen. Wenn der Westen unbedingt den Sieg gegen Russland will, dann muss er mit eigenen Truppen eingreifen. Dies würde womöglich zu einer nuklearen Eskalation führen. Russland und die USA haben sich bisher sehr bemüht, diese Grenze nicht zu überschreiten. Für die USA ist nicht Russland der ernstzunehmende Feind, sondern China.
Das Video mit dem Vortrag wird von den „NachDenkSeiten“ auf Youtube gezeigt: https://www.youtube.com/watch?v=L6dbonhYkDE.
Die NachDenkSeiten werden im medialen Mainstream als „verschwörungstheoretisch“ oder „Putin-nah“ abgestempelt. Damit werden ihr möglicher Einfluss entschärft und ihre Reichweite reduziert.
Die andere Seite zeigt der Aufmacher und den Schlussartikel aus der Ausgabe „ZEIT Geschichte“ (2023) zum Thema „Wie Kriege endet“.
Für die „ganz objektive“ Geschichtsschreibung stehen hier Politikwissenschaftler wie Herfried Münkler. Beim Schlussartikel wird die Konfliktforscherin Sabine Fischer zu Rat gezogen. Beide vertreten ähnliche Positionen zum Ukraine-Konflikt: Die NATO ist weltweit der Garant für Menschenrechte, Demokratie usw. Sie hat die Mission, Völker gegenüber Despoten zu schützen, gerade innerhalb Europas. Der Ukraine muss der Westen noch entschlossener mit Waffen helfen und das Land in die NATO aufnehmen. Dies wäre der nachhaltigste Schutz gegen Despoten. Es gibt keine Alternative zu diesem Weg (Eskalation inbegriffen), denn wenn Purin gewinnt, droht eine Chaos-Lawine.
Ein wichtiges Prinzip wissenschaftlicher und journalistischer Arbeit ist, dass man das ganze Spektrum der Positionen aufzeigt und jeder Position erstmal eine Eigenberechtigung zugesprochen wird. So kommt man der objektiven „Wahrheit“ näher, ohne a priori eine einzige Position mit ihr gleichzusetzen. Anders als die NachDenkSeiten ist Die Zeit ein relativ verbreitetes Medium in der deutschen Elite. Die Zeit gilt als glaubwürdig.
Hier finden Politikwissenschaftler wie Hajo Funke aber keinen Platz – und Helmut Schmidt, der selbst vor der NATO-Erweiterung nach Osten warnte, ist vor neun Jahren gestorben.
Dr. Davide Brocci, 1969, Rimini, freiberuflicher Soziologe Erforschung gesellschaftliche Transformationsprozesse in Theorie und Praxis mit Fokus auf soziale und kulturelle Nachhaltigkeit. Publizist und Berater, Dozent und Moderator.