Wahlkampf auf dem Rücken von Migranten
Von Karl-Wilhelm Koch, Angelika Claussen, Bernhard Trautvetter, Josef Mühlbauer, Klaus Moegling
Am 29. Januar wurde ein Unionsantrag zur Migration bewusst mit Stimmen der AfD beschlossen und am 31. Januar wurde versucht ein Gesetz zur gleichen Thematik – wieder bewusst mit Stimmen der AfD – zu beschließen, allerdings wurde die nötige Mehrheit verfehlt. Hierbei stimmten von den 90 Abgeordneten der FDP 67 und von den 10 Abgeordneten der Gruppe BSW 7 Abgeordnete für den von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetzesentwurf.
Stimmungsmache gegen Migranten löst kein einziges Problem, sondern schafft neue.
Merz hat für die Anträge der CDU im Bundestag zur Verschärfung der Flüchtlingspolitik die Zustimmung der AfD bewusst billigend in Kauf genommen, und er ist damit ein Risiko eingegangen. Um einen populistischen Erfolg im Parlament kurz vor der Bundestagswahl zu erzielen, also glaubhaft als ein harter Vertreter gegen Migranten_innen auftreten zu können, hat er ohne Not die Brandmauer zur AfD eingerissen.
Bewusst übergeht Merz die eigentlichen Probleme und Hintergründe der Entwicklung. So gilt bei genauer Betrachtung:
1. Nicht Migration ist das Problem
Praktisch alle Parteien (rühmliche Ausnahme: Die Linke) schreddern aktuell das Asylrecht. Die vorgeschobenen – in der Tat in den Einzelfällen furchtbaren Ereignisse, auch Ausdruck von Behördenversagen – Morde und Gewalttaten sind nicht den Ayslbewerber*innen und/oder Migrant*innen anzulasten, wie das mittlerweile nicht nur seitens der AfD versucht wird. Täter der Anschläge sind Attentäter oder Amokläufer mit islamistischen oder rechtsradikalen Hintergrund und psychisch Kranke, manchmal vermutlich auch beides in einem Körper. Der Anteil an Migrant*innen bei solchen Gewalttaten liegt in der Größenordnung wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.
2. Fehlende Unterstützung für psychisch Kranke ist das Problem
Ein großer Teil der Täter war offenkundig psychisch erkrankt (Brockstedt, Aschaffenburg, Magdeburg). Dem gegenüber stehen vergleichbare Anschläge durch deutsche Staatsbürger mit ähnlichem krankhaften Hintergrund und Verlauf: Trier, Bottrop, Hamburg, Potsdam … Seit 2021 gab es neben den immer wieder diskutierten „Anschlägen mit migrantischem Hintergrund“, neben Hanau und Trier, in Hamburg und Potsdam zwei weitere vergleichbare Anschläge mit acht bzw. vier Todesopfern (Hamburg: deutscher Täter mit religiösen Wahnvorstellungen; Potsdam: Mitarbeiterin eines Heims für Behinderte), über die keiner redet.
3. Rechtsextreme Anschläge – zu wenig thematisiert
Eine dritte Tätergruppe hat erkennbar deutliche rechtsradikale Hintergründe, hierzu gehören neben dem Magdeburg-Attentäter auch die Täter von Hanau und München-Mosach (2016)[1]. Die Geschichte der NSU – lange Jahre als „Milieumorde und Bandenkriege „verkauft“ – muss nicht weiter thematisiert werden.
Erstes Fazit
Das Problem sind also nicht „Die Migranten“ oder die „Asylanten“, sondern die psychisch Kranken, denen die Behandlung verweigert wird. Akute neue Erkrankungsfälle warten mehr als ein halbes Jahr auf Termine für eine erste (!!) Behandlung. Auch das Problem rechtsextremer Anschläge wird längst nicht auf derselben Ebene – mit derselben politischen Relevanz – diskutiert und thematisiert. Warum nicht? Weil sich damit vermeintlich keine Wahlkämpfe gewinnen lassen?
Gründe für Migration nehmen zu – auch durch uns!
Die Folgen der andauernden Klimakrise In Deutschland und weltweit zeigen, dass der Klimawandel einschließlich der durch ihn angefeuerten Konflikte und Kriege die Migration verschärft. Es ist möglich, den Klimawandel zu stoppen, die Grundlagen für ein würdevolles Leben für alle herzustellen und die deutsche Wirtschaft zu retten. Die Studie „Earth for all“ (Autoren Club of Rome und das Wuppertal Institut) stellen die notwendigen politischen Maßnahmen dar.[2] Wichtigste Grundlage: die Reform der Schuldenbremse.
Der direkt für jeden erkennbare Zusammenhang zwischen Waffenexporten und Migration, also Fluchtgründe, die durch Belieferung der Unterdrücker durch eben auch die westlichen Länder ausgelöst werden, wird seit Jahrzehnten nicht thematisiert. Anträge z.B. auf Grünen Parteitagen[3] mit dem Versuch, das zu benennen, werden mit 98% Mehrheit abgeschmettert.
Diese beiden Beispiele zeigen , dass ein grundlegender Politikwechsel erforderlich ist, um die gegenwärtigen ökologischen Belastungsgrenzen unseres Planeten Erde zu wahren. Gesunde Menschen, gesunde Umwelt und ein gesunder Planet – das gehört zusammen. An beiden Stellen müsste sofort und mit großen Summen im dreistelligen Milliardenbereich investiert werden. Die Beschlüsse dazu wurden jedoch in Aserbeidschan bei der letzten Weltklimakonferenz verweigert.[4]
Blick in die Vergangenheit
Bereits 1930 zerbrach die Große Koalition aus SPD und vier weiteren Parteien u.a. im Konflikt um die Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Bis 1933 wechselten sich dann mehrere von Reichspräsident Hindenburg eingesetzte Regierungen, die teils mit Notverordnungen ohne Mehrheit zu regieren versuchten. Wiederholte Auflösungen des Reichstags und anschließenden Neuwahlen stärkten die Nazis auf Kosten der Bürgerlichen, welche die Gefahr auch für sich selbst unterschätzten.
Das Verhalten der Bundestagsmehrheit erinnert an Hindenburgs Fehler, als dieser Hitler ohne Not zum Reichskanzler ernannte. Die Bundeszentrale für politische Bildung schrieb dazu: „Als Adolf Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler der Weimarer Republik ernannt wurde, hatte die junge Republik schon eine fast vierjährige Krisenphase in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft hinter sich. Ein maßgeblicher Faktor neben dieser Phase war die Weltwirtschaftskrise. Am 30. Januar 1933 war Hitler am Ziel: Hindenburg ernannte ihn zum Reichskanzler und löste den Reichstag erneut auf. Hitlers Kalkül, bei den darauffolgenden Wahlen am 5. März die absolute Mehrheit zu erlangen, ging zwar nicht auf, die Zugewinne für die NSDAP aber waren enorm …“ Die Ergebnisse dieser Entwicklung sind bekannt.
Das Verhalten der CDU hat eine Vorgeschichte: In Thüringen haben bereits CDU und FDP, also Parteien aus der so genannten ‚politischen Mitte‘, die Brandschutzmauer gegenüber der AfD und ihrer faschistischen Führung unter Björn Höcke zerbröselt.
Die Frage ist, ob das Verhalten von Friedrich Merz und der CDU/CSU-Fraktion sowie größeren Teilen der FDP-Fraktion und BSW-Gruppe in einer historischen Parallele zur Machtergreifung der Nationalsozialisten gesehen werden kann. Auch Bezüge zur Entwicklung des Nachbarlandes Österreich drängen sich auf.
Blick zum Nachbarn – aktuelle Entwicklung in Österreich
Auch in Österreich hat das Thema Migration erhebliche politische und mediale Aufmerksamkeit erhalten, wobei die Entwicklungen in diesem Bereich oft in eine restriktive Richtung gehen. Durch schärfere Asylgesetze werden Fluchtsuchenden der Zugang zu elementaren Menschenrechten erschwert. Durch „Sicherheitspakete“ werden sie bildlich gesprochen eingeschnürt. Der Fokus in Österreich liegt in der sog. „Integration“. Darunter fallen verpflichtende Deutschkurse und u.a. Wertekurse. Weitere Maßnahmen werden von der ÖVP und der FPÖ verlangt. Der künftige Umgang mit Schutzsuchenden und Asylsuchenden Menschen kann in Österreich bald mit einer „Null-Quote“ beschrieben werden. Nach FPÖ-Chef Herbert Kickl soll nämlich ein Antrag auf Schutz nur denjenigen zukommen, die per Direktflug angereist sind. Im Parteiprogramm der rechtspopulistischen Partei heißt es: „Wer über ein sicheres Drittland nach Österreich einreist, hat in diesem Asyl zu beantragen“. Ob die konservativ-rechte ÖVP weitere Legalisierungen der „Pushbacks“[5] zulassen, was die FPÖ bekanntlich fordert, bleibt abzuwarten. Ob es eine Koalition geben wird, die sich einer „Remigration“ d.h. einer rechtskräftigen Ausweisung aus dem Land durch die Aberkennung der Staatsbürgerschaft öffnet, ist ebenso fraglich.
Während der Koalitionsgespräche der beiden rechten Parteien verhandelten bereits Beamte des österreichischen Innenministeriums mit den Taliban in Afghanistan u.a. auch über Abschiebemöglichkeiten. Karl Nehammers „Österreich Plan“ und Herbert Kickls „Festung Österreich“ sind Programme, die in Bezug auf Migration restriktiv sind, in Bezug auf deren Ursachen jedoch völlig ignorant zu sein scheinen. In Österreich brauchen wir keine Brandmauer, sondern einen solidarischen und emanzipativen Gegenpol, der konkrete und gerechte Politik für ein gutes Leben für Alle macht. Die Fragen von sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit, Abrüstung, Österreichs Neutralität, bessere Arbeitsbedingungen und Chancengleichheit muss Österreich in den Fokus stellen.
Fazit
Wir können nicht mehr warten. Die wirklichen gesellschaftlichen Probleme müssen angepackt werden. Das sind die Erneuerung unserer Infrastruktur – Infrastruktur in Schulen, Hochschulen, Gesundheitswesen und öffentliche Verkehrssysteme, die Verbesserung der mangelhaften Versorgung psychisch Kranker und generell eine deutliche Stärkung des Gesundheitswesens, Schaffung von genügend funktionierenden KiGas und Schulen, Einstellung von Erzieherinnen und Lehrer, die Maßnahmen der sozial-ökologischen Transformation zur Eindämmung der Klimakrise und Stärkung des Umweltschutzes, vor allem in Richtung Artenschutz.
Grundlage für diese Maßnahmen ist eine Reform der Schuldenbremse. Stattdessen werden der tatsächliche Bedarf an Zuwanderung und Flüchtlinge zum Krisenthema Nr. 1 erklärt, so wie es die AFD will. Hier besteht die größte Gefahr für die Berliner Republik 2025, wenn die Herrschenden die Karte des bis zum Faschismus reichenden Ultranationalismus spielen, um vermeintlich mit einfachen Lösungen in der aktuellen multifaktoriellen Krise zu punkten.
Dies erfolgt, während auch Politiker_innen die Militarisierung bis zur von ihnen propagierten „Kriegstauglichkeit“ vorantreiben und Waffen vorsehen, deren Gefährlichkeit einen Atomkrieg wahrscheinlicher macht. Alle fordern Mehrausgaben in zwei- bis dreistelliger Milliardenhöhe pro Jahr für Rüstung und wollen in den anderen Bereichen sogar kürzen. Hinsichtlich der notwendigen gesellschaftlichen Integrationsleistungen ist dies aber kontraproduktiv. Die für die weitere Aufrüstung auszugebenden Gelder fehlen dann als Grundlage für unseren sozialen Zusammenhalt und die Infrastruktur.
Nicht ohne Grund haben die „Atomic Scientists“ ihre „Weltuntergangsuhr/Doomsday Clock“ auf die bislang kürzeste Vorwarnzeit seit Hiroshima gestellt. Die notwendige Antwort auf die Gefahren ist nicht Aufrüstung und militärische Eskalation, sondern eine entschiedene Politik der internationalen Diplomatie und Abrüstung. Denn Sicherheit und Frieden werden wir nur gemeinsam und kooperativ erlangen.
Eine auf die Zustimmung der AfD setzende Politik von Union und FDP, die den Rechten mit ihrer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit entgegenkommt, ist unverantwortlich. Dies gilt auch für das historisch blinde Abstimmungsverhalten des Bündnisses Sahra Wagenknecht.
Die Autor_innen:
Karl-W. Koch, pens. Lehrer für Chemie und Umwelttechnik sowie Fachbuchautor, ist Mitglied in der Orgagruppe der Unabhängigen Grünen Linken und Co-Vorsitzender der Grünen Alternative.
Angelika Claußen, Dr., ist Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Ko-Vorsitzende der deutschen Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung (IPPNW) und Vizevorsitzende der europäischen IPPNW.
Josef Mühlbauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Empowerment for Peace, Autor und Leiter des Podcasts auf YouTube „Varna Peace Institute“.
Bernhard Trautvetter ist u.a. Autor, aktiv im Essener Friedensforum und im Bundesausschuss Friedensratschlag.
Klaus Moegling ist apl. Prof. Dr. habil. (Universität Kassel, i.R.), Autor, Politikwissenschaftler und Lehrerausbilder.
[1] Zunächst als „unpolitischer Amoklauf“ eingestuft, das wurde erst nach 2 Jahren revidiert.
[2] https://clubofrome.de/news/earth4all-deutschland/
[3] https://antraege.gruene.de/50bdk/motion/2894/amendment/19126: „Viele Fluchtursachen sind gerade durch die Staaten des sog. demokratischen Westens verursacht, wie z.B. die völkerrechtswidrigen Kriege der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und im Irak, die faktische Unterstützung der Türkei in ihrem völkerrechtswidrigen Vorgehen gegen die Kurden, die Unterstützung von Diktatoren und Despoten in Afrika und mehr.“
[4]https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/556173/cop29-ergebnisse-der-weltklimakonferenz-in-baku/: „Als Gesamtziel wurde festgehalten, dass die Klimafinanzierung für Entwicklungsländer bis 2035 1,3 Billionen US-Dollar pro Jahr aus öffentlichen und privaten Quellen betragen soll. Konkret festgelegt ist davon jedoch nur ein kleiner Teil: Mindestens 300 Milliarden Dollar – statt der vormaligen 100 Milliarden Dollar – sollen bis zum Jahr 2035 als Klimahilfen an Entwicklungsländer fließen, die vom Klimawandel besonders betroffen sind. Dafür aufkommen sollen weitgehend die Industrienationen.“
[5] „Pushbacks“ = grundrechtswidrigen Abweisungen an der Staatsgrenze, oftmals mit Gewalt einhergehend