Gedanken zur Bundestagswahl und den Einflüssen von außen

Aus einer vorangegangenen Diskussion ergab sich die Vermutung, dass BSW und AfD ein ähnliches Milieu ansprechendarauf die folgende Reaktion von Davide Brocchi, 13.1.2025

Aber mir ist tausend Mal lieber, dass die Menschen BSW als AfD wählen. Es gibt eben viele Menschen, die eine gewisse Wut oder Resignation in sich tragen – und sich nicht einmal die Parteiprogramme genau durchlesen, bevor sie ihre Stimme abgeben. Die AfD vereint den Leviathan (Autoritarismus) mit dem Homo oeconomicus (Neoliberalismus). Viele vergessen, dass die AfD von Bernd Lucke gegründet wurde. Ich glaube, dass sich Lucke und Wagenknecht an vielen Stellen gründlich unterscheiden, auch wenn beide ihr Fokus auf Wirtschaftspolitik legen.

Eine starke Milieuaffinität gibt es übrigens inzwischen auch zwischen Grünen und FDP, deshalb überraschte mich 2021 nicht so sehr, dass sich beide Parteispitzen nach der Bundestagswahl direkt trafen, ohne SPD, um mit den Koalitionsverhandlungen zu beginnen. Bemerkenswert, wie medienwirksam sie das Treffen mit einem Bild bekannt machten: Das habe ich noch gut in Erinnerung. Jene Aktion regte bei mir einige Fragen an. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich lese gerade die neusten Bücher von Emmanuell Todd und Noam Chomsky – und je mehr ich lese, desto mehr fühle ich mich in manchen Ansichten bestätigt. Ich würde es so zusammenfassen:

Warum sollten sie mich bitten, eine Uniform anzuziehen und zehntausend Meilen von zu Hause entfernt zu sein und Bomben und Kugeln auf braune Menschen in Vietnam abzuwerfen, während sogenannte Neger in Louisville wie Hunde behandelt werden und einfache Menschenrechte verweigert werden?“ (Muhammad Ali)

Warum soll ich Steuern zahlen, um einen Krieg auf Kosten der Ukrainer gegen Russland zu finanzieren („für Demokratie, Freiheit usw.“), wenn ich von den Verhältnissen in meiner eigenen Gesellschaft so entsetzt bin und bestimmten Narrativen deshalb keinen Glauben schenken kann? Und überhaupt, kann der Westen ganz ohne Feindbilder und permanenten Krieg bestehen?

Mir ist Putin genauso wichtig wie Salman ibn Abd al-Aziz Al Saud oder Abd al-Fattah as-Sisi. Ich kenne alle persönlich nicht, als Staatschef hätte ich sie bestimmt nicht gerne. Ich nehme aber wahr, dass unsere Leitmedien und Politiker autoritäre Figuren im Ausland sehr unterschiedlich behandeln. So wird Putin gerne mit Hitler assoziiert, man müsse ihn entsprechend konsequent bekämpfen. Das heißt: Es ist nicht wirklich Putin, mit dem wir uns beschäftigen. Wir beschäftigen uns hingegen mit einer Erzählung über ihn, die uns vorgegeben wird, als ob diese die absolute Wahrheit sei. Wegen dieser Erzählung wurden zum Beispiel 100 Mrd. Euro Sondervermögen für die Bundeswehr zugestimmt und die Rüstungsindustrie reich gemacht. Gleichzeitig werden weiterhin Waffen an die in Teilen faschistische Regierung in Tel Aviv geliefert, obwohl Netanjahu selbst inzwischen in Den Haag angeklagt wurde (nebenbei: Putin wurde in Den Haag angeklagt, weil er ukrainische Kinder verschleppen lassen hat.[1] Ein Verbrechen, klar. Warum wurde er aber nicht für die schlimmen Massaker der Russen in der Ukraine angeklagt, worüber unsere Medien so oft berichtet hatten?).

Über den Krieg in der Ukraine wird so berichtet, als ob es keine Geschichte vor 2022 gegeben hätte. Was ist also nach dem Fall der Berliner Mauer passiert? Der Westen begann nach Osten zu expandieren. Damit wurde eine wesentliche Abmachung mit Gorbatschow verletzt, nun war man aber mit Boris Jelzin gut befreundet. Mit Jelzins Alkoholkonsum hatten die Amerikaner auf jeden Fall kein Problem. Clinton hatte sogar viel Spaß mit ihm,[2] Hauptsache das Geschäft lief gut. Jelzin versteckte sein Geld in der Schweiz, vielleicht auch Geld aus dem Westen?[3] Ausgerechnet in der Zeit, in der Russland zum Opfer des Räuberkapitalismus verfiel, hatte der Westen das beste Verhältnis zu seiner Spitze.

Wladimir Putin ist ein „Kind“ von Jelzin. Der neue Präsident sprach 2001 vor dem Bundestag, nahm an den G8-Gipfeln teil und fragte Bush einmal, ob Russland nicht Teil der NATO werden könne. Auch Berlusconi und Putin hatten ein sehr gutes Verhältnis.

Dann kamen Warnungen aus Russland vor einer weiteren Erweiterung der NATO nach Osten, die lange mit Ausreden gerechtfertigt wurden (z. B. 2007 beteuerte die NATO, das Raketenabwehrsystem in Osteuropa richtet sich gegen den Iran, nicht gegen Russland).[4] Ich frage mich, wie diese Geschichte weiterlief, so dass wir heute Krieg gegeneinander führen – auf Kosten der Ukraine (Boris Johnson: „Es ist ein Stellvertreterkrieg“). Alte deutsche Politiker hatten schon lange vor diesem Szenario gewarnt, zum Beispiel Helmut Schmidt. Diese Stimmen fehlen heute sehr. Ich vermute, dass der Westen eigene Politiker in Kiew installiert hat und dabei viel Geld geflossen ist. Vielleicht hätten die Deutschen lieber ein Vitali Klitschko als Präsident der Ukraine gesehen, doch die Amerikaner (erinnern wir uns an Victoria Nuland in Kiew) wollten ihren eigenen Mann an der Spitze des Landes sehen. Entsprechend devot sieht Selenskyj aus, wenn er den US-Präsidenten trifft. Klitschko durfte hingegen nur Bürgermeister bleiben.

Wo sind in Deutschland die Journalisten, die die Hintergründe kritisch und unabhängig beleuchten und bestimmte Fragen stellen? Die meisten deutschen Journalisten in der Ukraine sind „embedded“ (Kriegsreporterin Katrin Eigendorf am 11.12.2024 im ZDF-Morgenmagazin). Es ist offensichtlich, dass Positionen, die von der großen Erzählung abweichen, in unseren Leitmedien gar nicht vertreten sind. In der letzten Emma berichtet Alice Schwarzer, dass sie bis 2021 viele Einladungen von den Medien bekam. Seitdem sie sich zur Friedenspolitik geäußert hat, gar keine mehr. Harald Welzer habe ich auch schon lange nicht mehr erlebt, im Fernsehen. Selbst Jürgen Habermas wurde für seine Position in der Presse ausgelacht, man fragte, ob er an Demenz leidet. Harald Kujat in der ARD oder im ZDF? Niet. Es gibt viele, die eine andere Position haben, aber sie werden von der Presse konsequent ausgeschlossen oder niedergemacht. Konsequent, obwohl dies gegen fundamentale Grundsätze des Journalismus verstößt. Der Journalist Gabor Steingart schreibt am 29. November: „Die Welt wird geflutet von einem medialen Negativismus wie nie zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Verlage und Fernsehanstalten treiben ein böses Spiel, indem sie Gefahren zur Katastrophe vergrößern, rivalisierende Interessen mit Welteroberungsplänen gleichsetzen und die Sehnsuchtsworte der vergangenen Jahrzehnte – Freier Welthandel, Abrüstung und Frieden – mit leichter Hand ungültig stempeln. Plötzlich stehen sich Staaten wieder wie Erzfeinde gegenüber, Aufrüstung wird zur ersten Bürgerpflicht, Publizisten drängt man in die Rolle von Kombattanten: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“.

Ich erkenne bestimmte Muster nicht nur in den Medien, sondern auch in der Politik. Diese Muster wiederholen sich in NATO-Ländern mit einer ähnlichen Geschichte Deutschlands. Mein Eindruck? Weder in Italien noch in Deutschland kann eine Regierung lange bestehen, die den geopolitischen Interessen Washingtons im Weg steht. Die Aktion von Christian Lindner (u. a. Mitglied der Atlantikbrücke) gegen Olaf Scholz erinnert mich an die Art und Weise, wie Matteo Renzi im Jahr 2021 die Regierung Giuseppe Conte in Italien zu Fall brachte.[5] Wie nannte sich die Operation der FDP? „D-day“, welch ein bemerkenswerter Begriff für eine ziemlich dumme Partei.

Bemerkenswert war die Gleichzeitigkeit von internationalen Ereignissen. Nachdem Biden als US-Präsident abgewählt wurde, fiel „plötzlich“ auch die Regierung in Deutschland. Washington, London und Paris erteilten Kiew die Erlaubnis, russisches Gebiet mit eigenen weitreichenden Waffen zu beschießen. Dann Syrien…

Wer wurde Nachfolger von Giuseppe Conte in Italien? Mario Draghi, ein guter Freund der Amerikaner. Was kommt in Deutschland nach Scholz? Im Moment sieht es nach einem Mitglied der Atlantikbrücke aus. Auf jeden Fall will Merz die Taurus an die Ukraine liefern, genauso wie Habeck und Lindner. 

Wer also Premier werden will und vielleicht von den starken Diensten Washingtons im Ausland profitieren will, muss bestimmte Positionen vertreten. Ich glaube, dass man in den USA geostrategische Entwicklungen sehr penibel und sehr lange vorbereitet, auch wissenschaftlich – und dafür sehr viel Geld ausgibt. Die politische Elite, die in Europa gerade regiert (von der Leyen inbegriffen), riecht so, als ob sie demselben Netzwerk gehören würde. Man findet bestimmte Begriffe wie „George C. Marshall Foundation“ in vielen Lebensläufen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn sich Baerbock und Blinken auf Anhieb so gut verstanden. Es sind alle Politiker, die sehr ähnliche Positionen im Ukraine-Krieg vertreten und auf Eskalation pokern. Diplomatie und Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg? Für diese Politiker ein No-Go.

Diese neue europäische politische Elite will also die Arbeit fortführen, die Biden und anderen in Washington begonnen hatten. Was wir vergessen ist, dass die USA ein sehr gespaltenes Land sind, immer wieder kurz vor dem Bürgerkrieg (s. Sturm auf das Kapitol in Washington am 6.1.2021). Da herrscht Hass. Wenn jetzt Trump regiert, behandelt er viele Politiker in der EU als Kind der eigenen Feinde zuhause.

Ich finde richtig, dass man die russischen und die chinesischen Netzwerke in der deutschen Politik so gut beleuchtet. Aber spricht jemand über die amerikanischen?

Ich bin ziemlich entsetzt… Wir haben gerade so viele Prioritäten weltweit und werden gerade in wenigen Jahren in eine Entwicklung hineingeführt, die ebenso teuer wie gefährlich ist. Kultur, Soziales und Umwelt werden bereits kaputtgespart, während sich das Militär breit macht. Auch der Westen zeigt gerade kein Interesse, eine neue multilaterale Weltordnung zu etablieren und zu stärken. Den Haag ist nur dann wichtig, wenn es um die eigenen Feinde geht.

Zur Partei die Linke…

Wenn ich mir manche Positionen der Partei die Linke anschaue, dann habe ich das Gefühl, dass sie es auch nicht so richtig verstanden haben oder sich lieber verstecken, um am institutionellen Spiel weiter teilhaben zu dürfen. In der Außenpolitik stellt diese Partei ein wenig der Realo-Flügel im linken Spektrum dar. Im EU-Parlament hat Carola Rakete im September eine Resolution unterstützt: Einschränkungen des Einsatzes westlicher Waffen aufheben und Taurus an Kiew liefern. Seitdem bin ich auf Abstand zur Linkspartei gegangen. Die Frage von Krieg und Frieden ist eben keine unwesentliche…

Zum BSW…

Beim BSW mag ich zuerst die Personifizierung der Politik nicht – und dies schon im Namen. Man spürt die starke industrielle Prägung und den Fortschrittsglauben, während die Ökologie als Thema der „Lifestyle-Linken“ abgetan wird.

Und dann die Migrationspolitik. Viele Menschen wollen nicht migrieren, sondern sie müssen fliehen. Wir zerstören in der Welt die Lebensgrundlage der anderen, um uns diesen unfassbaren Massenkonsum zu ermöglichen. Also nicht die Migration ist das Problem, sondern ihre Ursachen. Wir können viele Probleme da draußen nur dann lösen, wenn wir bereit sind, die Verhältnisse in unserer eigenen Gesellschaft radikal zu ändern. Radikal ändern heißt für mich nicht, dass ein Arbeiter deutlich mehr verdienen soll, um sich einen dicken Mercedes leisten zu können. Es heißt hingegen, dass wir Privilegien so infrage stellen müssen, dass keine Armut mehr entsteht und sich Arbeiter auch ohne Mercedes nicht mehr benachteiligt fühlen. Eine Umverteilung brauchen wir vor allem vom Privatwesen zum Gemeinwesen.

Davide Brocchi, Dr. phil. (*1969, Rimini) lebt in Köln. Als promovierter Sozialwissenschaftler erforscht er gesellschaftliche Transformationsprozesse in Theorie und Praxis mit Fokus auf soziale und kulturelle Nachhaltigkeit (http://davidebrocchi.eu).


[1] https://www1.wdr.de/nachrichten/haftbefehl-putin-kinder-verschleppung-100.html

[2] https://www.youtube.com/watch?v=qkZeU4U9EyQ

[3] https://www.spiegel.de/politik/ausland/jelzin-15-milliarden-dollar-gewaschen-a-38418.html

[4] https://www.welt.de/politik/article918087/Iran-nennt-Raketenschirm-Witz-des-Jahres.html

[5] https://www.spiegel.de/ausland/italien-in-der-regierungskrise-wie-premier-giuseppe-conte-die-macht-entglitt-a-3c7e1f70-9878-438b-a77b-12308f55943d

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