Der böse Chmel und sein Atomkraftwerk

Wirtschaftsminister Habeck hat nichts gegen ukrainische Atomkraftwerke. „Solange sie sicher laufen“, sagte er bei einem Besuch in Kiew, sei das für ihn in Ordnung. Denn „die Dinger“ seien ja gebaut. Aktuell will die Ukraine allerdings zubauen. Energieminister Haluschtschenko kündigte die baldige Erweiterung des AKW Chmelnyzkyj mit westlicher Hilfe an. Die Blöcke 3 und 4, zwei nicht fertiggestellte Ruinen aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, sollen weitergebaut und mit neuen Blöcken 5 und 6 des US Unternehmens Westinghouse ergänzt werden. Ob es wirklich ratsam ist, einem vom Krieg erschütterten Land ausgerechnet mit Atomenergie helfen zu wollen – Tschernobyl hat es dort ja auch noch gegeben -, ist die eine und natürlich fundamentale Frage. Hinzu kommt in diesem Fall die merk-würdige Bezeichnung des Kraftwerks. Es ist nach seinem Standort benannt. Dieser wiederum, eine Industriestadt zwischen Kiew und Lwiw, trägt den Namen des mittelalterlichen Kosakenführers Bohan Chmelnyzkyj (1595 – 1657), in der jüdischen Tradition als böser Chmel bekannt. Er führte die schlimmsten antisemitischen Pogrome des ausgehenden Mittelalters an.

Neben dem Bandera-Kult gibt es in der Ukraine leider auch einen Chmelnyzkyj-Kult mit vielen Denkmalen, Inschriften und Feierlichkeiten. Daran hat Putin übrigens nichts auszusetzen: die Kosaken schlugen sich bei ihrem Aufstand gegen Polen-Litauen (1648) auf die Seite des Zaren. Der folgende Artikel beschreibt die europäischen Judenverfolgungen zu jener Zeit. Er erschien vor vierzig Jahren (Arbeiterkampf Nr. 234 vom 30.5.1983) und gehörte zu einer 14-teiligen Serie „Geschichte des Antisemitismus” der französisch-deutschen Übersetzerin Eva Groepler-zum Winkel. Groepler, die u.a. Sartre und Simone de Beauvoir übersetzte und im übrigen auch eine engagierte Atomgegnerin war, reagierte damit auf einen im Kontext des Nahostkonflikts aufflammenden Antisemitismus – ganz wie heute auch. Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung von Detlef zum Winkel.

Einmarsch des bösen Chmel in Kiew


Von der Reformation zur Aufklärung

Der böhmische Aufstand vom Jahre 1618 leitete den Dreißigjährigen Krieg ein. Unmittelbarer Anlass zum Ausbruch des Krieges war der Widerstand der böhmischen Stände gegen das feudalklerikale Regime des Hauses Habsburg und seine Versuche, im Königreich Böhmen eine katholische Restauration durchzusetzen. Stand zu Anfang des Krieges noch der konfessionelle Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten – und damit der Gegensatz zwischen Kaiser und Reichsständen – im Vordergrund, wurde später um die Hegemonie zwischen den Kontinentalmächten gekämpft.

            Der Krieg endete mit der faktischen Auflösung des Reichs. Schweden und Frankreich erlangten Sitz und Stimme im Reichstag und wurden zu Garanten des Friedens erklärt.  Verwüstet durch den Krieg, ohne Zentralgewalt, von Fürsten beherrscht mit unterschiedlichsten Interessen, jedoch einig in der Ausplünderung der Massen, war Deutschland „für zweihundert Jahre aus der Reihe der politisch tätigen Nationen Europas gestrichen” (Friedrich Engels).

         Der im Oktober 1648 geschlossene Westfälische Frieden leitete indes nicht nur allgemein eine neue Periode der staatlichen Entwicklung ein, sondern brachte auch eine Veränderung der Lage der Juden, wenn auch nur für eine geringe Anzahl Bevorzugter fühlbar. Drei Bestimmungen des Friedensvertrags waren für die jüdische Bevölkerung von Bedeutung: Die Verleihung der vollen Landeshoheit an alle Reichsstände, die zahlreichen Gebietsveränderungen und die Zuerkennung einiger religiöser Toleranz. Die Gebietsverschiebungen hatten zur Folge, dass Länder, die bis dahin ohne jüdische Bevölkerung waren, jetzt erstmals von ihnen bewohnt wurden: Brandenburg zum Beispiel, das die Bistümer Halberstadt und Minden erbte. Andererseits schieden Elsass und Lothringen ebenso wie Holland, und damit viele Juden, aus dem Reich aus. Die größte Bedeutung hatte die Anerkennung der Landeshoheit. Die Fürsten fingen an, Territorialpolitik zu betreiben, um ihre Länder zu bereichern. Den Weg dahin versuchten sie mit Niederwerfung der Stände und Ausbau der absoluten Herrschaft zu erreichen; dazu benötigten sie eine straff organisierte, von Berufsbeamten geleitete Staatsverwaltung, ein stehendes Heer und reichlich Finanzen. Das Fehlen einer solchen Beamtenschaft und der Widerstand der Patrizier gegen Zentralisation und die neue, auf Merkantilismus basierende Wirtschaftspolitik waren Gründe, weshalb sich die deutschen Fürsten dafür entschieden, sich zur Durchführung ihrer Politik der Juden als Heeres- und Hoflieferanten zu bedienen, wodurch sie dem Zwang, eine Bewilligung durch die Stände einzuholen, aus dem Wege gingen. Diese jüdischen Beauftragten der Fürsten wurden „Hofjuden“ genannt oder auch „Hoffaktoren“. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Hofjuden zur allgemeinen Einrichtung selbst in den Territorien, wo keine jüdische Bevölkerung zugelassen war.

         Sie lebten an den kleinen deutschen Fürstenhöfen, waren wohlhabend, übten politischen Einfluss aus und besaßen ein besonderes „fürstliches Generalprivilegium“, das sie von der Mehrheit ihrer Glaubensbrüder und -schwestern trennte.

         Am bekanntesten wurde die Gestalt des württembergischen Hoffaktors Josef Süß Oppenheimer (1692-1738), „Jud Süß“ genannt. Während der Amtszeit des württembergischen Herzogs Karl Alexander war Josef Oppenheimer Hauptplaner radikaler Reformen im Land, deren Ausführung er gleichfalls leitete.

         Minister, meistens Ausländer, wurden auf seine Empfehlung hin ernannt; er schlug die Bildung einer Hofkammer vor, die unabhängig von den Ständen sein sollte, die Etablierung eines Rechnungshofes und förderte die Industrie. Alles in allem verfolgte er die für seine Zeit fortschrittliche Vorstellung eines rational aufgebauten absolutistisch-merkantilistischen Fürstenstaats an Stelle des überholten patrimonialen Ständestaats. Nach dem plötzlichen Tod des Herzogs wurde „Jud Süß“ von den Ständen verhaftet, die ihn des Hochverrats anklagten und ihn folterten. Vergeblich wurde versucht, ihn zum Christentum zu bekehren, obwohl er kein frommer Jude war. 1783 wurde er in einem Käfig am Galgen hingerichtet.

         Leben, Aufstieg und Absturz des Josef Oppenheimer war (ist) Anlass und Nahrung antisemitischer Gerüchte und Sprüche. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde „Jud Süß“ zum Symbol des machtgierigen, lüsternen Judenteufels – sein Ende aber auch zum Symbol dessen, was man mit den Juden vorhatte. Hofjuden gab es zwar vor allem in Deutschland, doch im 18. Jahrhundert erschienen mehrere Juden in ähnlicher Eigenschaft in Frankreich, England und Russland.

Die Juden in Brandenburg

Auch dort ist die Geschichte der Juden von ständiger Ausweisung und Wiederaufnahme geprägt. 1350 fanden in der Neumark Judenverfolgungen statt. 1446 wurde die jüdische Bevölkerung ganz vertrieben, 1509 wieder aufgenommen, aber kurze Zeit später wieder ausgewiesen. 1573 erfolgte die Ausweisung der Juden aus Brandenburg „auf ewig“. 1650 wurde eine neue Verordnung auf sieben Jahre erlassen, die den Juden keineswegs einen längeren Aufenthalt gestattete, sondern nur den Besuch auf freien Jahrmärkten, wofür sie auch 200 Reichstaler jährlich zu zahlen hatten. Diese Verordnung wurde 1660 erneuert.

         Die neuere Geschichte der Juden in Brandenburg-Preußen wurde durch das Edikt vom 21. Mai 1671 bestimmt, mit welchem der Große Kurfürst fünfzig reiche jüdische Familien in die Mark Brandenburg aufnahm, die fast alle aus Wien kamen, woraus sie ein Jahr zuvor vertrieben worden waren.

         Das Ausweisungsdekret von 1670 hatte die Wiener Ghetto-Juden überrascht: gerade erst 1659 hatte ihnen Kaiser Leopold ihre Privilegien bestätigt. Hinter dem Ausweisungsakt stand nicht nur der Klerus, sondern die österreichischen Stände, der Magistrat und die Zünfte der Stadt Wien. Wieviel ihnen die Ausweisung der Juden wert war, zeigt, dass sie als Ersatzzahlung anboten, einmalig 50.000 und jährlich 14.000 Gulden zu zahlen. Auf diese Weise wollten sie einen Ausgleich für den Ausfall der jährlichen Judenabgaben von 31.000 Gulden erreichen. Auf dem Platz der ehemaligen Synagoge wurde eine Leopoldskirche aufgebaut, eine in das Fundament eingefügte Tafel besagt, dass die Kirche anstelle einer „Mördergrube“ erbaut worden sei.

         Die Vertreibung hatte Folgen: eine Krise des Staatskredits, die Geldverknappung schadete dem allgemeinen Geld- und Wechselverkehr, Lücken entstanden in der Belieferung des Hofes. Das brandenburgische Juden-Edikt vom Mai 1671 stellte die fünfzig aufgenommenen Familien unter Schutz und erteilte ihnen ein relativ großzügiges Handelsprivileg; in allen nicht den Christen zünftig reservierten Bereichen durften die Juden frei handeln, sie durften Grund- und Hausbesitz erwerben und wurden vom diskriminierenden Geleitzoll an Grenzen und Stadttoren befreit. Als Schutzgeld waren von jeder Familie acht Taler, als Heiratsgeld ein Goldgulden zu entrichten. Der jüdische Kult wurde allerdings auf die Privatsphäre beschränkt, Synagogen durften vorerst nicht gebaut werden.

         Alte jüdische Gemeinden entstanden vor allem in den Herzogtümern Mark, Kleve, Ravensberg und den Bistümern Minden und Halberstadt sowie ab 1680 in Magdeburg. In Ostpreußen und Hinterpommern gab es relativ wenige Juden. Die Judenpolitik des Großen Kurfürsten entsprach seinem Hauptziel, Brandenburg-Preußen zu einer selbständigen Großmacht unabhängig von der Vorherrschaft anderer Mächte, namentlich Frankreichs, zu machen. Dazu gehörte ein aus eigener Steuerkraft finanziertes Heer sowie eine funktionierende staatliche Bürokratie. Die neu aufgenommenen Juden bildeten gegenüber der alten jüdischen Bevölkerung eine stark bevorzugte Minderheit, die sich vor allem in Berlin, Breslau und Königsberg niederließ.

         Unter den Nachfolgern des Großen Kurfürsten – unter Friedrich Wilhelm I. und unter Friedrich dem Großen – verschlechterte sich jedoch die Lage der Juden in Brandenburg-Preußen. Jene verfolgten zwar die gleichen ehrgeizigen Ziele für Preußen, bedienten sich aber anderer Mittel: es kam nun darauf an, bei zunehmend restriktiver Behandlung möglichst viele Abgaben aus den Juden herauszupressen.

         Preußens Judenpolitik im 18. Jahrhundert wurde zunehmend von den zentralen Staatsbehörden übernommen. Die bürokratische Behandlung der Juden wurde zunehmend restriktiver, und drei Hauptziele herrschten vor:

  •    Ein Wachstum der jüdischen Bevölkerung zu verhindern, die Armen außer Landes zu drängen, die Reichen steuerlich möglichst auszunutzen.
  •    Die den Juden verbleibenden Handelszweige zugunsten der zünftigen Christenbürger einzuschränken; in aller Regel mussten die Juden einen Handelszweig räumen, sobald christliche Gewerbetreibende diesen beanspruchten.
  •    Die Solidarhaftung der Synagogengemeinde durchzusetzen mit dem Ziel, auch dort möglichst hohe Abgaben herauszuziehen. Die zunehmende Verschärfung des Haftungsprinzips führte zur Zwangsgemeinde, wodurch besonders die armen Juden aufs engste an die Gemeinde, sprich an die reichen Juden, gekettet wurden.

Das Haftungsprinzip – zunächst zur Eintreibung der Schutzgelder und anderer Abgaben gedacht – wurde immer weiter auf andere Bereiche ausgedehnt: auf Straftaten, Hehlerei, Bankrotte, Familienmitglieder, Dienstboten etc. Diese Judenpolitik traf jedoch weniger die reichen, privilegierten Juden als die arme Masse der Kleinhändler, besonders in den neu gewonnenen Gebieten Schlesien und Posen.

         In der Regierungszeit von Friedrich dem Großen verdoppelte sich die Zahl der preußischen Juden fast (auf ca. 60.000 Erwerbstätige). Im aufgeklärt-absolutistischen Preußen nahm die Diskriminierung der Juden immer schärfere Formen an:

  •    Um ein Anwachsen der jüdischen Bevölkerung zu verhindern, wurde festgelegt, dass jeder Schutzjude nur zwei seiner Kinder als Nachfolger „ansetzen“ durfte. Alle anderen Kinder mussten entweder außer Landes oder unverheiratet in den Dienst eines anerkannten Schutzjuden gehen. Im Reglement von 1750 wurde die Zahl der „ansetzbaren“ Kinder auf nur eines reduziert. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurde diese Beschränkung teilweise wieder aufgehoben.
  •    Die Verdienstchancen der Juden wurden zunehmend eingeschränkt; dafür vermehrten sich ihre Sonderabgaben und Verpflichtungen. Während ursprünglich jeder Jude 8 Taler jährlich an Schutzgeld zu zahlen hatte, musste um 1700 die brandenburgische jüdische Bevölkerung gemeinsam 3.000 Taler Schutzgelder entrichten; 1728 betrug die Zahl 28.000 Taler.
  •    Hinzu kamen Sonderabgaben wie Heiratsgeld etc., ab 1728 zusätzlich 4.800 Taler Rekrutengeld und 1766 die Silberlieferungen, die weitere 24.000 Taler erforderten. Kleinere Abgaben wie Kirchengeld und Abgaben bei besonderen Anlässen wurden parallel gefordert: Zwang zur Übernahme von Produkten der königlichen Porzellanmanufaktur, Zahlungen bei Heirat, Erwerb eines Hauses und ähnlichem.
  •    Im Laufe des 18. Jahrhunderts nahmen auch die Eingriffe in die jüdische Kultgemeinde immer rigorosere Formen an: Erst ging es um die Gemeindefinanzen, dann um die Kultdiener, schließlich um den Kult selbst. In Königsberg zum Beispiel wurde der Gottesdienst in der Synagoge von protestantischen Theologieprofessoren überwacht…

Die Hamburger Judengemeinde

„Im gegenwärtigen Jahre 1492, nachdem Eure Hoheiten den Krieg gegen die Mauren, die noch in Europa herrschten, in der gewaltigen Stadt Granada beendet hatten … (und) nach Vertreibung aller Juden aus Ihren Königreichen und Herrschaften, befahlen mir Eure Hoheiten im nämlichen Monat Januar … nach den Gestaden Indiens in See zu stechen“ : so schrieb Christoph Columbus über seine erste Entdeckungsfahrt an das katholische Königspaar Ferdinand und Isabella (zitiert nach Die Juden als Minderheit in der Geschichte, dtv, S. 85). Im gleichen Jahr, in dem die Reconquista, die christliche Rückeroberung ganz Spaniens abgeschlossen und die Juden vertrieben worden waren, im Jahr der Entdeckung Amerikas konnte es seine Macht und auch seinen Glauben auf eine neue Welt übertragen. So sieht es die christliche und spanisch-nationale Geschichtsschreibung, die den sinnhaften geschichtlichen Zusammenhang zu unterstreichen bemüßigt war (ist). Die Vertreibung der spanischen Juden, der ältesten, zahlenmäßig größten und am längsten geduldeten jüdischen Minderheit im mittelalterlichen christlichen Europa, teilweise das kulturelle Zentrum auch für diejenigen Juden, die im Orient unter dem Islam lebten, ist einer der tiefsten Einschnitte innerhalb der Weltgeschichte der Juden. Ihre Zwangsausweisung aus dem ganzen Land innerhalb von drei Monaten war die größte, die in dieser Form auf einen Schlag geschah – die größte vor dem 20. Jahrhundert. 1496/1497 wurde auf spanischen Druck hin auch in Portugal das Judenverbot verkündet.

         In diesem Jahr beginnt also die Diaspora der sogenannten Sephardim, die Ausbreitung der iberischen Juden über die Mittelmeerländer und weit darüber hinaus. Nach 1580 begann auch die Auswanderung in protestantische Länder, nach Dänemark, vor allem nach Amsterdam – wo das „holländische Jerusalem“ entstand und eben auch nach Hamburg.

         Vor 1600 hatten sich in Hamburg Marranen aus Portugal („Schweine“, wie man auf der iberischen Halbinsel die zwangskonvertierten Conversos nannte) niedergelassen. Als Kaufleute portugiesischer Nation, die man für Katholiken hielt, wurden sie geduldet. Als sich herausstellte, dass die Einwanderer durch die Inquisition zwangsgetauft waren, sich aber weiter zum Judentum bekannten, folgten die üblichen Szenen. 1603 verlangte die Bürgerschaft, von Krämern und Handwerkern angeführt, ihre Ausweisung. Der Senat aber schützte sie und gestattete ihnen auch das öffentliche Abhalten von Gottesdiensten. Der Senat hatte vor allem ihre wirtschaftliche Bedeutung im Auge: insbesondere verfügten sie über Handelsverbindungen mit Spanien, Portugal und mit der neuen Welt.

         Als 1619 die Bank von Hamburg gegründet wurde, gehörten dreißig portugiesische Juden zu den Anteilzeichnern. Die sephardischen Juden hatten aufgrund ihrer Geschichte ein anderes Bewusstsein als die aschkenasischen Juden; dem christlichen Großbürgertum standen sie weder kulturell noch gesellschaftlich nach. Unter ihnen befanden sich z.B. die Leibärzte der Könige von Dänemark und Schweden, andere besorgten die diplomatischen Geschäfte der Könige von Polen, Portugal und Schweden; Königin Christine von Schweden wohnte etwa während ihres Hamburger Aufenthaltes im Haus ihres jüdischen Residenten.

         Das selbstbewusste Auftreten der Sephardim erregte die lutheranische Geistlichkeit. 1644 wiederholte der Senior der Petrikirche, Johannes Müller, Luthers judenfeindliche Thesen. Die Aschkenasim wurden in Hamburg erst später aufgenommen. Von den Städten Altona, Wandsbek und Glückstadt, wo sie unter dem Schutz des dänischen Königs lebten, siedelten sie im Laufe der Jahrzehnte immer mehr nach Hamburg über. Ansonsten durften sie aber nur tagsüber mit einem Pass in Hamburg verweilen.

         Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts (1697) wurden die Aschkenasim als „hochdeutsche Judengemeinde“ gesetzlich anerkannt. Zur gleichen Zeit verließen viele Sephardim die Stadt und gingen nach Amsterdam, weil die Bürgerschaft plötzlich neue Gesetze erlassen hatte – höhere Steuern und das Verbot, größere Bethäuser zu besitzen. 1650 kam noch eine dritte Gruppe von Juden nach Hamburg, Flüchtlinge aus Polen, Nachkommen jener deutschen Juden, die 1350 nach der Pest Deutschland verlassen hatten (siehe AK 232, „Zur Geschichte des Antisemitismus“, Teil II).

Der Chmielnicki-Aufstand

Nach Polen-Litauen hatte es vier Phasen jüdischer Einwanderung gegeben:

  •    vor dem ersten Kreuzzug,
  •    zwischen dem ersten und dem letzten Kreuzzug, wobei der Zustrom der Juden eher Ausdruck von Evakuierung war als von Einwanderung,
  •    die Ansiedlung von Juden seit der zweiten Hälfte des 13. bis zum 15. Jahrhundert,
  •    sporadische Fälle von Einwanderungen im 16. und 17. Jahrhundert, z.B. 1612 aus Frankfurt am Main, 1670 aus Wien u.a.m.

Die Juden in Polen-Litauen galten auch dort als „königliche Kammerknechte“, und die Katholische Kirche zeigte ihnen gegenüber die gleiche Feindseligkeit wie in anderen Ländern auch. Dennoch konnten die Juden dort eine im Vergleich zu den anderen Ländern einzigartige rechtliche und soziale Position erreichen. Diese Zeiten endeten allerdings mit dem Schock des Kosakenaufstands 1648/1649 unter Führung des Hetmans Bogdan Chmjelnizki (oder Chmielnicki)[1]der böse Chmel – und seiner mörderischen Überfälle auf die jüdische Bevölkerung. Die Massaker an den Juden und am polnischen Adel, im Namen des „heiligen Krieges für die Freiheit und den rechten Glauben“ begangen, breiteten sich über die ganze Ukraine, Litauen und Weißrussland aus. Viele Juden wurden gefangengenommen und nach Konstantinopel als Sklaven verkauft. Die ukrainischen Juden, wie z.B. in Tulchin, verteidigten sich mit großer Tapferkeit. Die Grausamkeit der Massaker war unbeschreiblich.

         Siebenhundert Gemeinden waren verschwunden. Juden wanderten in großer Zahl nach Deutschland und in andere westeuropäische Länder aus.

Die Jüdische Gemeinde in Amsterdam

1581 wurden die sieben protestantischen Nordprovinzen der Niederlande (die Union von Utrecht) von Spanien unabhängig. 1593 ließen sich die ersten Sephardim in Amsterdam nieder. Die marranischen (s.o.) Gemeinden in Holland wuchsen rasch und beteiligten sich am holländischen Handel, beispielsweise an der Ostindischen Kompanie. Ihr Erfolg, der sich mit der wirtschaftlichen Blütezeit Hollands deckte, veranlasste die Zuwanderung von Juden aus Deutschland und, nach den dortigen Ereignissen von 1648, auch aus Polen. Diese Aschkenasim waren bald in Holland in der Überzahl gegenüber den Sephardim, die wohl dennoch den bedeutenderen Einfluss hatten. So wurden sie von Cecil Roth als die Pioniere jüdischer Ansiedlung in der halben zivilisierten Welt bezeichnet: „Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft war ihr Einfluss beträchtlich. Sie waren die Pioniere der landessprachlichen jüdischen Literatur. Sie gaben das Beispiel für die Abschaffung der traditionellen jüdischen Kleidung … Man kann die Mitglieder der marranischen Diaspora ohne Übertreibung die ersten modernen Juden nennen“ (Die Juden als Minderheit in der Geschichte, dtv, S. 109).

         Der Rabbiner Manasse ben Israel (1604-1657) eröffnete in Amsterdam eine der ersten jüdischen Buchdruckereien. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Wiederaufnahme der Juden in England. 1290 wurden die Juden von englischen Territorien verbannt; fast dreihundert Jahre lang blieben die britischen Inseln ohne Juden. Zwar hatten sich Sephardim dort angesiedelt, allerdings offiziell als Katholiken. 1649 diskutierten die von Cromwell angeführten Puritaner über eine Duldung des jüdischen Glaubens. Ben Israel wandte sich 1650 mit einer Petition an das Parlament und reiste 1655 nach England, um für die freie Religionsausübung zu werben. Schließlich bekamen die jüdischen Gemeinden in England 1664 einen offiziellen königlichen Schutz.

         Zwei bedeutende sephardische Philosophen gehörten zeitweise der Amsterdamer Gemeinde an. Der erste, Uriel da Costa, kam 1618 nach Amsterdam, wo in der jüdischen Gemeinde mit Entsetzen festgestellt wurde, dass er die jüdische Tradition und die Unsterblichkeit in Frage stellte. Nachdem er seine Thesen gegen die Tradition verfasst hatte, sprachen die Rabbiner 1640 endgültig den „Cherem“ (Bannfluch) über ihn. Um wieder in die jüdische Gemeinde aufgenommen zu werden, musste er sich einer körperlichen Züchtigung unterziehen. Kurz vor seinem Suizid (1640) schrieb er seine Autobiographie Exemplar humanae vitae (Beispiel eines menschlichen Lebens). 16 Jahre nach dem Tod da Costas wurde auch Baruch de Spinoza aus der Amsterdamer Gemeinde vertrieben, weil er Bibel und jüdische Tradition kritisierte.

Die Kabbala und der falsche Messias

Für die Kabbalisten (hebräisch: Überlieferung) ist der Bibeltext nicht nur ein Gefüge von Worten und Sätzen; jeder Buchstabe, jeder Vokal, der Rhythmus von Laut- und Silbenfolgen, die Zeichensetzung – alles hat eine symbolische Bedeutung. Der Beginn dieser mystischen Strömung ist auf das 9. Jahrhundert in Babylonien zurückdatiert worden, eine Ausbreitung erlebte sie aber vor allem in den Jahren nach der Vertreibung der Juden aus Spanien. Zum Bestand der kabbalistischen Anschauung gehört die Lehre der vier Schöpfungswelten:

  • die Welt der Emanation (Aziluth),
  • die Welt der Wesen (Beriah),
  • die Welt der Form (Jezirah)
  • und die Welt des körperlich Wirkenden (Asijah), die die niedrigste ist.

Dazwischen steht der Mensch im Kampf mit der unteren Welt der Geister und Dämonen und der Sehnsucht nach oben, nach der Welt des Sefiroth (Lichtstrom). Vertreibung und Exil trugen zum Aufkommen der jüdischen Mystik und zur sogenannten messianischen Bewegung bei. Als einflussreichste Repräsentanten dieser Zeit messianischer Hoffnungen sind Sabbatai Zwi[2] und sein Prophet Natan von Gaza zu nennen.

         Der Prophet Natan sandte Weisungen in alle Länder von Amsterdam bis in den Jemen, die meist bereitwillig, wenn nicht begeistert befolgt wurden. In früheren Generationen hatte es ebenfalls Männer gegeben, die sich als Messias ausgaben und behaupteten, sie würden das Volk Israel erlösen, doch niemals waren sie so breit akzeptiert worden. Sabbatai Zwi kam aus Smyrna und hatte sich dort, zur Zeit der Pogrome in Polen, als Messias der Juden ausrufen lassen. Als er schließlich unter Todesdrohung zum Islam übertrat, war der größte Teil des Judentums bis ins Mark getroffen. Der Sabbatianismus und der Verrat des „Messias“ lösten eine schwere Krise aus.

Quellen:

Joachim Prinz, Jüdische Geschichte, Verlag für Kulturpolitik, Berlin, 1931

Ismar Elbogen, Geschichte der Juden in Deutschland, Erich Lichtenstein-Verlag, Berlin, 1935

H.G. Adler, Die Juden in Deutschland, Kösel Verlag, München, 1960

Werner Keller, Und wurden zerstreut unter alle Völker, Droemer Knaur Verlag, München-Zürich, 1966

Michael Freund, Deutsche Geschichte, Bertelsmann Lexikon Verlag, 1973

H.H. Ben-Sasson (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 3

Zu Josef Oppenheimer siehe auch L. Feuchtwangers Roman „Jud Süß“


[1] heutige Schreibweise: Bohdan Chmelnyzkyj 

[2] Schabbtai Zvi

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