Gastbeitrag von Klaus-Dieter Grothe, 17.6.2023
Wenn der Laie der Berichterstattung zur Innenministerkonferenz vom 8.6.23 und den Beschlüssen zum GEAS folgt, bleibt er sehr ratlos zurück: von den einen wird der Beschluss als wegweisend dargestellt, von den anderen als schlimmster Angriff auf das Asylrecht. In der vereinfachten Interpretation z.B. des Städte- und Gemeindebundes heißt es z.B., dass jetzt Menschen, die sowieso keinen Anspruch auf Asyl hätten, schon an der europäischen Außengrenze abgefangen würden, was ja auch ihnen zur Klarheit helfe, und die „echten“ Asylbewerber würden nun gleichmäßiger über Europa verteilt, was die Kommunen in Deutschland auch entlaste. Warum beides nicht stimmt, möchte ich aus meinen Erfahrungen aus griechischen Flüchtlingslagern erklären:
1. Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen gibt es schon lange. Jeder Flüchtling kommt in Griechenland in ein Lager, in dem seine Asylgründe geprüft werden. In den letzten zwei Jahren hat die griechische Regierung nicht nur die Verwaltung der Lager deutlich verbessert, auch die Verfahren deutlich gestrafft, so dass innerhalb von drei Monaten über einen Asylantrag entschieden wird. Gegen diesen Bescheid kann auch wie in Deutschland und in einem Rechtsstaat üblich, vor einem unabhängigen Verwaltungsgericht geklagt werden, die Klageverfahren sind deutlich kürzer als in Deutschland.
Was soll also anders gemacht werden? Es soll keine Asylverfahren mehr geben, sondern eine Prüfung, ob ein Asylverfahren aussichtsreich ist. Gegen diese Entscheidung soll es keine Klagemöglichkeit geben. Menschen sind also Behörden- oder Regierungswillkür völlig ausgesetzt. Das soll zwar nur Menschen aus Ländern betreffen, bei denen die Anerkennungsquote unter 20% liegt, aber es stellt sich direkt die Frage: wer bestimmt diese Quote? Im Regelfall das Land, das diese Zentren betreibt. Die Anerkennungsquoten der Länder sind aber in Europa sehr unterschiedlich: so ist die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus der Türkei in Griechenland sehr niedrig, in Deutschland aber nahe der 50%-Grenze, weil politische Flüchtlinge aus der Türkei eher nach Deutschland gehen, wo es funktionierende Netzwerke politischer Emigranten gibt. Das bedeutet, dass das Asylrecht faktisch abgeschafft wird – ein Bruch mit allen Werten Europas!
2. Grenzverfahren in geschlossenen Einrichtungen gibt es auch schon. Die Lager für die neu ankommenden Geflüchteten sind zwar inzwischen offen und es gibt Schule für die Kinder sowie Beschäftigungs- und Sprachkurse für die Erwachsenen. Sie werden inzwischen ähnlich wie unsere Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland geführt. Nach dem Abschluss des Asylverfahrens, was jetzt innerhalb einiger Monate geschieht, dürfen bzw. müssen (dazu s.u.) die Menschen, deren Asylbegehren anerkannt wurde, das Lager verlassen. Diejenigen aber, denen kein Asylrecht zuerkannt wurde, werden in geschlossene Lager gebracht, die weitab von anderen Siedlungen auf den griechischen Inseln errichtet wurden. Dort haben Hilfsorganisationen keinen Zutritt und auch für die dort Untergebrachten ist es kaum möglich, Kontakt mit anderen aufzunehmen. Es gibt dort keine soziale Unterstützung und auch keine Rechtsberatung. Die Lager dienen eindeutig zur Abschreckung, zu sonst nichts.
Jetzt kommt aber das Entscheidende: es gibt keine Abschiebung aus diesen Lagern. Die Menschen, meist junge Männer, werden für ein paar Jahre dort festgesetzt und wenn sich nichts tut – sogenannte „freiwillige Ausreise“ ist gar nicht möglich, weil keine entsprechenen Papiere ausgestellt werden – werden die Menschen irgendwann aus dem Lager freigelassen und vermehren das Heer der sogenannten „Illegalen“, die sich irgendwie auf dem Schwarzmarkt durchschlagen müssen.
Nach meiner Kenntnis wird in Italien ebenso verfahren. Was soll sich jetzt ändern? Diese geschlossenen Lager machen nur Sinn, wenn es Möglichkeiten gibt, die Menschen auch des Landes zu verweisen, d.h. abzuschieben. Es gibt aber keine bzw. nur wenig Möglichkeiten, die Menschen in die Herkunftsländer abzuschieben, Griechenland macht das gar nicht, Italien nur in geringem Umfang nach Tunesien (und natürlich auch nur für tunesische Staatsangehörige). Hier kommt jetzt das Konzept der „sicheren Drittstaaten“ zur Geltung, was sich auch in dem Beschluss vom 8.6. findet: sichere Drittstaaten, also Staaten, auf die man Geflüchtete zurückverweisen kann, sollen jetzt alle sein, durch die die Geflüchteten schon mal gekommen sind. Das ist für Griechenland primär die Türkei, für Italien Tunesien, Libyen, Ägypten. Über die Menschenrechtslage in diesen Ländern muss man nicht viel Worte verlieren, faktisch ist es aber auch so, dass diese Länder keine Flüchtlinge zurücknehmen, erst recht nicht, wenn sie nicht die eigene Staatsangehörigkeit haben.
Es wird also dazu führen, dass man entweder die o.g. Staaten mit Milliardensummen besticht, die Menschen aufzunehmen, oder, was wahrscheinlicher ist, diese Lager werden zu neuen Morias: mit einer großen Anzahl von Menschen ohne Perspektive, mit schlechter Versorgung und sich daraus entwickelnden Problemen von Drogen- und Gewaltkriminalität.
Noch wahrscheinlicher ist, dass sich im Prinzip gar nichts ändert und es weiter geht so wie jetzt.
3. Verteilung in Europa ist ein Thema, das sich Griechenland und Italien schon lange wünschen. Die Möglichkeit gibt es schon heute, es wird aber sehr wenig Gebrauch davon gemacht. Wieso? Eine Verteilung von Geflüchteten kann es ja erst nach Abschluss des Asylverfahrens geben und nach Klärung des Rechtsstatus, aber da sind die Leute schon wieder weg, so dass Italien und Griechenland sehr wenig Menschen zur Verteilung anmelden. Selbst wenn Geflüchtete in Griechenland und Italien einen Asylstatus bekommen, so bekommen sie dann jedoch keierlei Sozialleistungen und, was noch wichtiger ist, keinen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt. Für eine Sozialversicherungsnummer benötige ich nämlich eine feste Wohnadresse, die ich mir aber ohne Arbeit nicht leisten kann….Ich weiß aus Griechenland, dass viele Geflüchtete gerne in Griechenland bleiben würden (das Wetter ist auch etwas besser…), jobs gäbe es auch im Tourismus und der Landwirtschaft, aber alles geht nur auf dem Schwarzmarkt, weil es keine legalen Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, die Kinder können dann nicht zur Schule und es gibt auch keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aus diesem Grund wandern die Menschen weiter nach Mitteleuropa oder versuchen direkt, Griechenland und Italien zu umgehen. Daran wird sich auch durch eine Verteilungsquote von 30.000 Menschen bei ca. 900.000 Ankommenden pro Jahr in Europa nicht viel ändern.
D.h. auch an dieser sogen. Sekundärmigration wird sich nicht viel ändern, solange die Ankunftsstaaten keine Sozialleistungen und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt bereitstellen.
Es ließe sich noch viel mehr zu Einzelpunkten sagen, aber es wird erkennbar, dass die Politik nur auf populistische Abschreckung zielt, aber kein Problem wirklich löst. V.a. die rechtspopulistischen Regierungen haben überhaupt kein Interesse an einer geordneten Flüchtlingspolitik, sie werden keine Ruhe geben, solange es überhaupt Flüchtlinge gibt, das Feindbild wird ja gebraucht.
Und die Regierungen, die sich, wie die deutsche, überhaupt noch Flüchtlingsschutz auf die Fahne geschrieben haben, lassen sich von den anderen am Nasenring durch die Manege führen und stimmen billigen populistischen Scheinlösungen zu, um nicht als tatenlos dazustehen.
Ich kann nicht erkennen, wie die Beschlüsse vom 8.6. irgendetwas verbessern, weder für die betroffenen Menschen noch für identifizierbaren Probleme.
P.S.1: Mal die Zahlen betrachtet: in 2022 sind 900.000 Asylanträge in der EU gestellt worden (ohne Folgenanträge oder für Familien), ca. 200.000 sind nach Griechenland und Italien gekommen. Was soll sich also an den Zahlen in Deutschland durch ein Grenzverfahren ändern? Und nach Deutschland sind, mal abgesehen von Geflüchteten aus der Ukraine, in 2022 ca. 200.000 andere Asylbewerber*innen gekommen, in diesem Jahr werden es ca. 300.000 werden. Selbst Seehofer hat vor einigen Jahren mal gesagt, dass eine Zahl von 200.000 pro Jahr leicht zu handhaben sei (erinnert sich noch jemand daran?) Also wozu die Aufregung?
P.S.2: Heute Journal: Der Migrationsexperte Gerald Knaus zum Thema
P.S. 3: Aktuelles Interview der GAZ mit Grothe
Klaus-Dieter Grothe, 68 Jahre alt, von Beruf Psychotherapeut und Kinder- und Jugendpsychiater, seit 1990 in der Flüchtlingshilfe und seit 1982 bei den Grünen aktiv, derzeit Stadtverordneter und Kreistagsabgeordnerter in Gießen. Seit November 2021 leite ich ein Projekt zur psychosozialen Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Familien, zuerst auf Lesbos, seit Mai 23 in Athen.