Enquete Kommission Afghanistan bescheinigt: 20 Jahre – ein Desaster

Gemeinfrei Wikepdia (U.S. Marine Corps photo by Lance Cpl. Nicholas Guevara)

OI, 3.3.2024

Berichte über Afghanistan sind spärlich geworden. Ein Jahrzehnte währender Krieg findet sich nun in einem Zwischenbericht der Enquete Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ vom 19.2.24 auf 350 Seiten, zur „Drucksache  20/10400“ des Deutschen Bundestags eingedampft.[1] (Anm. 1)

„Am 6. August 2021 nahmen die Taliban in Nimrus im Südwesten die erste Provinzhauptstadt ein, zwei Tage später schon Kunduz, drei Tage später als erstes Korps-Hauptquartier das 17. Pamir Korps. Am fünften Tag der Taliban-Offensive fiel Kandahar, die zweitgrößte Stadt des Landes, nach zweimonatiger Belagerung. Nach einer Woche hatten die Taliban bereits die Zentren der Hälfte aller Provinzen, darunter auch Herat und sieben der neun Nordprovinzen, eingenommen, einen Tag später auch Mazar-e Sharif, am zehnten Tag der Offensive zur Überraschung der meisten Beobachter kampflos letztlich die Hauptstadt Kabul. Angesichts des Kollapses des afghanischen Staates und seiner Sicherheitskräfte verlief die Machtübernahme der Taliban viel weniger blutig als befürchtet. Die begründete Angst vor den neuen Machthabern sowie die Hoffnung auf Evakuierung trieben in Kabul zigtausende Menschen zum Flughafen. Bilder von verzweifelten Menschenmassen, Gewalt und Chaos prägten die Perspektive des internationalen Abzugs und machten die Niederlage weltweit unübersehbar.“ (Aus dem Bericht S. 52).

Diese dürren Worte, vermutlich muss das so sein, verbergen mehr als das sie der bitteren Wahrheit näher kommen. Folgt man den Worten, so hat es den Anschein, als hätten Bundesregierung, US-Regierung und andere Akteure, mit dem Geschehen eher nichts zu tun. Die westlichen Interventionstruppen lösten mit ihrem nur auf den eigenen Rückzug bedachten und, der gerade auch von der deutschen Bundesregierung betriebenen Ablehnung, später und bis heute, komplett widerwilligen und dementsprechend unzureichenden, Unterstützung der jahrzehntelang loyal für sie arbeitenden afghanischen Ortskräfte, ungezählte menschliche Tragödien aus.[2] Diesen Skandal heute, im Jahre 2024 in der Drucksache derart zu verewigen, wonach die „… die Machtübernahme der Taliban viel weniger blutig als befürchtet (verlief)“, muss man als Leser:in ertragen können.

Der für diesen Krieg mitverantwortliche Ex-Außenminister Josef Fischer (GRÜNE) kommentiert die Lage in Afghanistan heute mit einem einzigen Wort: „schrecklich“.[3] Dennoch mag Fischer nicht von einem „Fehler“ sprechen. Es ist weniger das millionenfache Leid im Zuge der Entscheidung für eine Einsatzbeteiligung im Geiste „bedingungsloser Solidarität“ mit dem Verbündeten (USA), das ihn dabei bewegt. Es ist vielmehr, die leicht selbstmitleidige Attitüde, man hätte sich dem Verbündeten, den USA, schlecht verweigern können. Dies hätte „… uns einen hohen Preis …“ gekostet. Aber auch dafür findet der ausgewiesene Geostratege eine positive Wendung: „Machen sie sich mal keine Illusionen, was unsere Abhängigkeit heute betrifft!“, mahnt der Grünen-Politiker. Was ihn zu der – aus seiner Sicht – vielleicht wichtigsten Lektion aus Afghanistan führt: Ohne militärisches Gewicht, ohne „hard power“, wie Fischer es nennt, werde es die deutsche Politik auch in Zukunft schwer haben.“ (ebd. Anm.2). Das lässt eine Ahnung aufkommen, welche Lehren die Protagonisten der Enquete – Kommission bereits gezogen haben, bzw. noch ziehen werden. „Wenn wir mehr leisten wollen und mehr politisch leisten wollen, werden wir die entsprechenden Fähigkeiten zur Verfügung stellen müssen. Sonst werden das positive Absichten bleiben – aber es wird nix werden.“ So Fischer weiter. Damit liegt er nicht neben der Spur des deutschen Militarismus.

Ansonsten werden die Verantwortlichen der wechselnden Regierungen aus zwanzig Jahren, nicht müde, die „Vorteile“ der Beteiligung an diesem Krieg hervorzuheben. Thomas de Maiziere etwa: „Deutschland hat sich über die Zeit das Afghanistan-Einsatzes als Sicherheitsmacht Respekt verschafft – was es vorher nicht hatte“. (ebd.). Heidmarie Wieczorek-Zeul (SPD) auf die Frage: „War alles umsonst? Nein, … In den 20 Jahren freiere Lebenschancen für junge Menschen und für Frauen – da sind Keimzellen der Hoffnung, die meines Erachtens niemand beiseiteschieben kann und darf.“ (ebd.). Darf man dies Zynismus nennen, Angesichts der immer wieder mal veröffentlichten Realitäten in Afghanistan?[4] (Anm.4)

In all den Jahren, bis unmittelbar vor dem Abzug haben die Abgeordneten dieser Fraktionen nahezu geschlossen, bzw. mit überwältigender Mehrheit jeder Eskalationsstufe zur Fortführung dieses Krieges zugestimmt. Apropos Krieg. Der durfte nicht so genannt werden. Das war ein „robustes Mandat zur Erhaltung des Friedens“. „Einsatz für Demokratie, Frieden und Frauenrechte“ waren Wortgetüme, die da phantasiereich als Sprachregelung gehandelt wurde.

Dennoch. Der Bericht ist lesenswert! In erdenklicher Nüchternheit beschreibt er, durchaus kritisch, den langen Weg in eine Niederlage und legt die penetrante Beratungsresistenz der herrschenden politischen Klasse auf den Präsentierteller. Und zwar als parteiübergreifendes Phänomen.

Ein Wort zu den bereits erwähnten Lehren

2007 kam es, leider nur in der GRÜNEN Partei, nicht aber in der SPD oder gar der CDU zur„Palastrevolte der Basis“ gegen den nun im Bericht der Kommission bestätigten, jeweiligen Regierungskurs und die damit verbundene, kontinuierlich anziehende Gewaltspirale. Die Basis setzte einen Sonderparteitag durch. Der von den Basisaktivisten erarbeitete Antrag zu einem Kurswechsel in Afghanistan obsiegte gegen den Leitantrag der Bundestagsfraktion und dem Bundesvorstand.  Massiver Druck der Parteiführung, der teilweise persönlich wurde, schreckte die Aktivist:innen nicht.

In der Kritik stand seinerzeit eine weitgehende Fokussierung der Politik auf die militärischen Mittel zur Durchsetzung der Ziele. Es wurde den Parlamentariern dargestellt, dass die Ziele des Einsatzes von den Verbündeten sehr unterschiedlich ausbuchstabiert, und da wo erkennbar eindeutig, widersprüchlich interpretiert wurden.

Der Bericht kommt in Teilen zu ähnlichen Ergebnissen. So war das Ziel der USA dezidiert nicht „Nation-Building“ o.ä., sondern im Vordergrund stand die militärische Zerschlagung der Al-Qaida und die Liquidierung des Osama bin Laden. Während die deutsche Bundesregierung die „Freiheit am Hindukusch“ (Peter Struck, seinerzeit Bundesminister der Verteidigung) verteidigen, Frauenrechte durchzusetzen und Demokratie installieren mochte, man mag ihr den ernsthaften Willen nicht absprechen, scheiterte das, u.a. an den Machtverhältnissen in der Kriegskoalition, aber auch am begrenzten Einsatz von Mitteln für diesen zivilen Zweck durch Europäer und Deutschland. Jedenfalls – ein Punkt der Kritik war das ungeheure Ungleichgewicht des Einsatzes militärischer Mittel, gegenüber den für den Zweck erforderlichen zivilen Ressourcen. Auch dies bestätigt der Bericht Jahre später. Eindringlich werden, weiteres Beispiel, die seinerzeit bereits erkennbaren militärischen Gewaltexzesse geschildert, deren Unverhältnismäßigkeit dargestellt und wie die Verhinderung unparteiischer Verfolgung durch den ISGH am Veto der USA scheiterte (um ein Beispiel zu nennen). Das nagte und nagt an der Glaubwürdigkeit.

Robert Zion, 2007 Redner für den erfolgreichen Basisantrag des Sonderparteitages, hob hervor:
„Afghanistan hat 34 Provinzen. Allein zwischen September und Juni – also in weniger als einem Jahr – hat die Zentralregierung in Kabul die Hälfte der noch von ihr kontrollierten Gebiete verloren. In den 14 Südprovinzen herrscht offener Krieg. In 13 Nordprovinzen wird die Lage zunehmend prekär. Viel Raum und Zeit für Illusionen bleibt uns da nicht mehr! Kommt der von uns Grünen schon seit langem geforderte Strategiewechsel jetzt nicht bald, – hin zu einer politischen Lösung – hin zum zivilen Aufbau – hin zum polizeilichen Denken – weg von der kontraproduktiven Kriegsführung – weg von der Spirale der Gewalt – weg von der geradezu irrsinnigen Vorstellung, wir müssten dort einen Krieg führen und könnten diesen auch noch gewinnen. Kommt dieser Strategiewechsel jetzt nicht bald, dann werden wir das erleben, was bereits eine „Irakisierung des Landes“ genannt wurde, und dann wird alles bisher dort im Zivilen erreichte zerstört werden. Dann waren alle unsere guten Absichten Makulatur. (…)“. Er mahnte, Verantwortung wahrnehmen hieße nun „OEF sofort beenden – Die Tornados zurückholen, weil sie kontraproduktiv, ja sogar schädlich sind. Was selbst der BND in seinen Briefings mittlerweile durchblicken lässt – ISAF nur unter der Bedingung eines bald erfolgenden Strategiewechsels – Und darum keine Zustimmung für die zusammengelegten Mandate – Stattdessen die Einforderung eines moderierten Friedensprozesses für Afghanistan.“[5]

2009 starben wohl mindestens 100 Menschen beim Versuch, einen gestrandeten Tanklastzug zu entladen unter der Wucht zweier amerikanischer 500 Pfund Bomben, weitere wurden schwer verletzt. Trotz wiederholter Rückfragen der US-Piloten, ob sie die Bomben wirklich werfen sollen, da sie auf Sicht fliegend, Zivilisten erkannten, Befahl der deutsche Oberst Klein den Abwurf. Nach langwierigem Prozess wies das OLG Köln die Klage der Opfer 2015 ab.

Zion zitiert in seiner Rede 2007 den „.. deutsch-afghanischen Politikwissenschaftlers, Matin Baraki: Als ich mich im Frühjahr 2007 in Afghanistan aufhielt, war dort die Entsendung der Bundeswehr-Tornados das beherrschende politische Thema. Die Afghanen empfinden deren Einsatz im Süden und Osten, wo die US-geführten NATO-Einheiten einen gnadenlosen Krieg führen, als faktische Kriegserklärung an die afghanische Bevölkerung. Dies hat in der Tat das Ansehen Deutschlands beschädigt. Deutschland ist jetzt zur Kriegspartei geworden, mit allen unausweichlichen Folgen. Davor habe ich die deutsche Politik immer gewarnt.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Es empfiehlt sich, die Fortentwicklung der deutschen und europäischen Militärstrategie aufmerksam zu beobachten. Wer glaubt, „Geostrategie“ sei aus der Zeit gefallen, wird in einem Albtraum erwachen.


Quellen und Anmerkungen
[1] Deutscher Bundestag – Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“

[2] Siehe dazu Afghanistan – Das leere Versprechen – medico international

[3] Joschka Fischer in der Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz | tagesschau.de

[4] Afghanistan-Einsatz: Lehren aus 20 Jahren am Hindukusch | tagesschau.de Der Beitrag der tagesschau ist vom 19.9.2022, die Lage hat sich seither verschlechtert.

[5] Rede Goettingen, Sonderparteitag 2007, Robert Zion

Wer sich über die Basisaktivitäten bei den GRÜNEN zu Afghanistan interessiert, wird hier fündig

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