Aktion „Spinnennetz“– 1. Schritt zum Atomkrieg?

Karl-W. Koch, 11.6.2025

Selbstverständlich wird mit dem nachfolgenden Beitrag weder der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der russischen Regierung verharmlost oder relativiert. Dennoch müssen die neuen Fakten zur Kenntnis genommen und bewertet werden.

Die beiden Atom-Weltmächte Russland und USA haben ein abgestimmtes Reservoir an Möglichkeiten, um  auf einen Erst-Atomangriff zu reagieren: Landgestützte Interkontinentalraketen in Bunkern und auf LKW und Zügen, Bomben und atombomben-bestückbare Raketen (und vermutlich auch Marschflugkörper) in den Bomberflotten, von denen jeweils mehrere Maschinen 365/24 in der Luft sind, sowie U-Boot-gestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen. Diese sollen einen „Zweitschlag“ mit Vernichtung des Gegners sicherstellen, wenn das Land atomar angegriffen wird. „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“, so die Doktrin.

Den anderen Atommächten stehen die Möglichkeiten nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung.

Werden die Zweitschlagskapazitäten vernichtet, steigt die Versuchung, den Gegner mit einem Erstschlag auszuschalten.

Mit der sogenannten Aktion „Spinnennetz“ hat die Ukraine durch koordinierte Drohnenangriffe auf mehrere russische Militärflugplätze – darunter auf strategische Bomberbasen – ein völkerrechtlich hochsensibles Feld betreten. Auch wenn sich die Ukraine im Rahmen ihres Selbstverteidigungsrechts gemäß Artikel 51 der UN-Charta gegen einen Aggressor zur Wehr setzen darf, stellt die gezielte Attacke auf Nuklearwaffenträger (wie die Bomber vom Typ Tu-95 und Tu-22) sowie zum wiederholten Mal auf Frühwarnsysteme (A-50) eine beunruhigende Eskalation dar.

Völkerrechtlich heikel ist ebenfalls der mögliche Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, insbesondere das Unterscheidungsgebot gemäß Art. 48 des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen, durch den Einsatz ziviler Fahrzeuge als Waffe, hier als Startplattformen für Drohnen. Solche Praktiken verwischen bewusst die Trennung zwischen zivilen und militärischen Zielen und gefährden damit direkt den Schutz der Zivilbevölkerung.

Insidern zufolge ist Putins angedrohter Vergeltungsschlag gegen die Ukraine noch nicht erfolgt. Der Zeitpunkt der vollständigen russischen Reaktion sei unklar, werde aber innerhalb weniger Tage erwartet, sagte ein US-Regierungsmitarbeiter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, der anonym bleiben wollte. Der Angriff werde wahrscheinlich verschiedene Waffenarten der Luftwaffe umfassen, darunter Raketen und Drohnen, erklärte ein weiterer. Man rechne mit Angriffen auf symbolträchtige ukrainische Ziele wie Regierungsgebäude, um Kiew ein klares Signal zu senden. Der Angriff werde laut Insider „gewaltig, brutal und unerbittlich sein“.

Auch die Tagesschau bestätigte am 2. Juni 2025 diese Einschätzung: US-Regierungsinsider gehen davon aus, dass Russland auf die jüngsten ukrainischen Drohnenangriffe noch nicht endgültig reagiert hat.

Im Einzelnen:

  1. Russland ist nach dem (ausgesetzten) Start-Vertrag nicht verpflichtet, seine Atombomberflotte außerhalb von Hangars für Satelliten sichtbar aufzustellen, wie behauptet wird. Das scheint durchaus – auch in den USA von Fall zu Fall zu geschehen.Die angesprochenen Inspektionsmöglichkeiten sind aber auch in den Hangars gegeben. Allerdings – so Telepolis:
    Die vorgeschriebene Kennzeichnung von Atombombern (Anhang zu Verifikationsmaßnahmen, Teil 4, Abschnitt III, Punkt 10) und der Austausch technischer Daten (Protokoll, Teil 2, Abschnitt I, Punkt 5) sind bei Flugzeugen im Freien einfacher zu überprüfen als in Hangars.
  2. Sehr aufschlussreich zum Thema ist der aktuelle dpa-Faktencheck:
    Gerücht über Rüstungskontrolle
    «New Start»-Vertrag sieht Hangars für Bomber vor
  3. Einen weiteren interessanten Hinweis zum Thema gibt Telepolis:
    Der Einsatz ziviler Lastkraftwagen (LKW) zur verdeckten Infiltration russischen Territoriums und als Startplattformen für Kampfdrohnen stellt einen Verstoß gegen das Unterscheidungsgebot dar. Das humanitäre Völkerrecht, kodifiziert in Art. 48 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen, verpflichtet Konfliktparteien zur strikten Trennung militärischer und ziviler Objekte.
  4. Die Nennung der „zerstörten“ Bomber durch die Angriffe:
    Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes SBU wurden 40 Kampf- und Aufklärungsflugzeuge zerstört, unter anderem Kampfflugzeuge vom Typ Tupolew Tu-95 und Tu-22 sowie ein (oder zwei nach anderen Quellen) Aufklärungsflugzeug vom Typ Berijew A-50.)“ Andere Quellen sprechen von „… nicht etwa 30%, sondern 10% Zerstörung der strategischen Bomberflotte“…,
    scheint deutlich durch die Ukraine geschönt zu sein. Verlässliche Zahlen liegen von keiner Seite vor. Zwei dieser A-50-Maschinen wurden Anfang 2024 durch FPV-Drohnen der Ukraine stark beschädigt, aber offenbar repariert.
  5. Fazit, wiederum ein Zitat von Telepolis, dem ich mich anschließe (Hervorhebungen durch den Verfasser):
    Mit ihrer „Spinnennetz“-Taktik hat die Ukraine einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, der das Unterscheidungsgebot untergräbt und Zivilisten gefährdet.
    Noch schwerer wiegt womöglich der Schlag gegen New START und seine Verifikationsregeln. Wenn die Freiluftstationierung von Atombombern, bisher ein Vertrauensbeweis, nun zur Achillesferse wird, könnten beide Seiten ihre Waffensysteme verstärkt abschotten. …

Grundlegend stellt der ehemalige Verteidigungsminister unter Clinton, 1994 – 1997, William J. Perry die aktuelle Atomwaffenpolitik der USA in Frage und verweist u.a. darauf, dass:

Amerika … nur einen Knopfdruck von einem Atomkrieg entfernt (ist) – eine Entscheidung, die allein in den Händen des Präsidenten liegt. Ohne die Zustimmung des Kongresses oder gar des Verteidigungsministers abzuwarten, kann der Präsident Amerikas Atomwaffenarsenal entfesseln und damit die Zivilisation, wie wir sie kennen, beenden. Seit Jahrzehnten drohen Pannen und Ausrutscher einen nuklearen Winter auszulösen: Fehlinformationen, Fehlalarme, instabile Präsidenten und nun auch Cyberangriffe. Und ein neues nukleares Wettrüsten hat begonnen, das uns alle bedroht.“ (Januar 2021, mehrere Veröffentlichungen, FAZ, Spiegel, kurier.at. Das Originalzitat wurde mittlerweile gelöscht)?

Der Angriff der auf Einheiten von Nuklearstreitkräften durch die Ukraine ist ein Präzedenzfall. Die Ukraine hat letztes Jahr einen Angriff auf Frühwarnsysteme durchgeführt. Dazu bemerkt das österreichische Bundesheer in einer offiziellen Stellungnahme: „Der Angriff auf Armavir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten.“ Das gilt erst recht für die jetzigen Angriffe. Ergänzend sei gesagt, dass gerade die Zerstörung – wenn die Meldung stimmt – eines oder zweier Frühwarnflugzeuge A-50, ein wichtiges Element in Russlands Frühwarnsystem. Die Ukraine riskiert die russische Interpretation eines solchen Angriffs a als sogenannten Enthauptungsschlag (Vorbereitung eines Atomschlages durch die Unterstützer der Ukraine). Der herrschende Trumpismus dürfte die russische Führung nur sehr bedingt in Sicherheit wiegen.

Dieser Angriff muss als qualitativ neue Stufe, hin zur Ausweitung des Krieges und hin zur nuklearen Eskalation diskutiert werden. . Die Vermutung, dass die Koordinaten von den westlichen Geheimdiensten stammen, wenn nicht direkt aus den START-Protokollen, liegt nahe. Die Weitergabe kann dann als eine direkte Kriegsbeteiligung interpretiert werden. Wenn im Kreml der Eindruck entsteht, der Westen greife gezielt in die russische nukleare Zweitschlagsfähigkeit ein – sei es auch nur in Form von Aufklärung oder Zielzuweisung – kann dies als Vorbereitung auf einen Erstschlag gedeutet werden. Das wäre die gefährlichste aller Fehleinschätzungen. Zudem dürfte das neue – dringend nötige – Atom-Abrüstungsverhandlungen erschweren, wenn nicht verunmöglichen.

Alle Beteiligten – insbesondere NATO-Staaten – müssen sich der Eskalationslogik bewusst werden, die solche Angriffe auslösen können. Abrüstungsverhandlungen und vertrauensbildende Maßnahmen im Nuklearbereich sind heute dringender denn je. Das berechtigte Interesse der Ukraine, sich gegen den Aggressor zu verteidigen, sollte nicht dazu herhalten, die Ukraine zu ermutigen, das nukleare Inferno und das Ende der Menschheit zu riskieren.

Weitere Quelle: Atomkrieg aus Versehen?

Please follow and like us: