Simon Lissner, 9.11.22
„Ja, selbstverständlich“, sagt Hofreiter, wenn man ihn daran erinnert, dass er 2014 gegen Waffenlieferungen an die Kurden war und lange gehadert hat mit einigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Und ja, er habe auch manchmal Bauchschmerzen wegen der Waffen. Die Wirklichkeit aber sei eine andere geworden, brutal. „Wir haben es mit einem imperialen, kolonialen Eroberungs- und Vernichtungskrieg zu tun. Und so etwas haben wir eigentlich seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa nicht mehr gesehen… Wer Putin jetzt nicht militärisch einhege, brauche sich nicht zu wundern, wenn er demnächst in Moldau[1] einmarschiere.“[2]
Wir dürfen Anton Hofreiter in einer Sache durchaus vertrauen und auch ein wenig dankbar sein: Er spricht längst und ungeschminkt aus, was andere seinerzeit noch dementierten (Ricarda Lang, Buvo) oder allenfalls nur zu denken wagen, aber:
„Es gibt aber auch Leute, die beharrlich schweigen zu Anton Hofreiters wildem Ritt. Annalena Baerbock und Robert Habeck gehören zu ihnen. Das mag daran liegen, dass die Regierungsmannschaft hinter den Kulissen längst dabei war, Panzerlieferungen an die Ukraine zu organisieren, während Hofreiter sich über Untätigkeit aufregte.“[3]
Um den Kurswechsel des Hofreiter zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Geschichte schauen und uns fragen, wem hier einst Waffen verweigert wurden und wem sie heute zugestanden werden. Dabei steht hier Hofreiter exemplarisch für die Meinungsmacher*innen in Fraktion und Bundesvorstand der Grünen Partei.
Wer schützte die Jesiden 2014? Waffen für die Kurden? Welche Kurden?
Die Massaker des IS an Jesiden im Norden Syriens beschwor bei den GRÜNEN die eingangs angedeutete Debatte herauf. Toni Hofreiter gehörte dem Zitat folgend zu jenen die u.a. auf dem Parteitag 2014 Waffenlieferungen an die Kurden generell ablehnten: Keine Waffen in Krisengebiete.
„Die Grünen haben sich gegen Waffenlieferungen an die Kurden im Irak ausgesprochen. Der Bundesparteitag unterstützte damit am Sonntag in Hamburg die Mehrheitslinie des Bundesvorstands und der Fraktion, die schon im Bundestag deutsche Waffen für die Kurden abgelehnt hatte.“[4] Das war jedenfalls damals das Ergebnis. Der „Nordkurier“ gibt einen exemplarischen Überblick über die Stimmungslage (Özdemir u.a. für Waffenlieferungen, Roth u.a., dagegen).
Am 3. August 2014 zogen sich die Peschmerga aus der Sindschar Region zurück. Die nur schlecht bewaffneten oder gar von Peschmerga zuvor entwaffneten, an Zahl geringen jesidischen Kräfte, konnten den einrückenden IS-Terror-Truppen nichts entgegensetzen. Wer nicht in das Sindschar Gebirge fliehen konnte, wurde getötet, entführt und versklavt. Tausende von Jesiden wurden im Sindschar Gebirge eingeholt, eingekesselt, wer sich dort nicht durch Flucht retten konnte, erlitt das gleiche Schicksal.[5]
Die Ukraine, Waffen in ein Krisengebiet, ja bitte!
Der Kurswechsel lässt sich damit erklären, dass sich in der Partei die Ideologie vom „gerechten Krieg“ durchgesetzt hat. Der wird auf Seiten der Ukraine und besonders daraus abgeleitet, für die NATO-Staaten vorausgesetzt. „Wir“ stehen an der Seite der „Guten“, wir sind „gerecht“ und haben das „Recht“ auf unserer Seite.
Es gibt keinerlei Zweifel daran, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat und die Kriegsverbrechen auf deren „Schuldkonto“ gehen. Kein Krieg, und auch nicht die Annexion der Krim, beginnt ohne lange Vorgeschichte. Heute fragt niemand mehr, wieviel Gelegenheiten wurden verpasst, bis es zur Annexion der Krim kam, wieviel deeskalierende Schritte wurden nicht unternommen oder wie viele Vermittlungsversuche von Drittstaaten wurden ausgeschlagen?
Die Ukraine ist weit entfernt von unserer Vorstellung von freier Gesellschaft. Korruptionsgeplagt, gefährlich radikal-nationalistisch, problematischer Umgang mit Minderheiten. Die Ukraine konnte bisher aus guten Gründen weder in die NATO aufgenommen werden noch in die EU.
Nun befindet sich die Ukraine im Verteidigungskrieg. Die Konflikte sollen militärisch „gelöst“ werden. Der Krieg hat Einfluss auf die innere Verfasstheit der Ukraine. Da wird kaum mehr in den Aufbau einer demokratischen, offenen, liberalen und freien Gesellschaft investiert. Im Gegenteil, wir erleben um sich greifende kriegsbegründete Illiberalität, Kampf gegen den „inneren Feind“, Gleichschaltung der Presse und so weiter. Die Not wird nach dem Ende dieses Krieges vermutlich keine gute Geburtshelferin für die Entwicklung einer fortschrittlichen Gesellschaft sein.
Ein Blick in die Zukunft sagt: Die Kriegsparteien an unserer europäischen Außengrenze werden sich „zu Tode siegen“. Wir können als Erfahrungswerte, die völlig zerbombten „Sieger“ an der südöstlichen Mittelmeerküste oder in den afrikanischen failed states, zitieren. Es wird Jahrzehnte dauern, den Schaden zu beheben und das menschliche Leid wird uns traumatisch mehrere Generationen begleiten.
Was unterscheidet also den Krieg in der Ukraine, was macht ihn „gerechter“ als die Kriege andernorts, bei denen wir noch sagten, keine Waffen in Krisengebiete (in Kriegsgebiete sowieso nicht)? Was macht diesen Krieg „besonders“ für „uns“? Gar nichts! Im Interesse des (noch) nicht kriegsbeteiligten Europas läge es, alle Ressourcen dafür einzusetzen, diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden.
Mit der Belieferung einer Kriegspartei geht nun bereits einher, dass die andere Kriegspartei ebenfalls beliefert wird. Das hilft, solche Kriege, nahezu beliebig zu verlängern. Solange Mordwerkzeuge in unbegrenzter Menge und Menschen, die es gebrauchen, zur Verfügung stehen, wird das Morden weiter gehen. Solange die finanzierenden Mächte bereit sind, Milliarde um Milliarde zur Beschaffung von Mordwerkzeug zur Verfügung zu stellen, wird das Morden weiter gehen. So einfach ist das.
Sämtliche Ressourcen zur Beendigung zur Verfügung stellen, bedeutet alle Anstrengungen darauf verwenden, den Angreifer politisch, wirtschaftlich zu isolieren und damit die Grundlage zur Beschaffung militärischer Mittel zu entziehen. Ebenso muss auf den Angegriffenen eingewirkt werden, zur Beendigung, Nachteile hinzunehmen, gegen entsprechende Sicherheitsgarantien. Der Gedanke fällt jenen naturgemäß schwer, die eine Verpflichtung zur „bedingungslosen Solidarität“ mit der Ukraine konstruieren. Humanitär muss Europa die Wälle einreißen. Wer sich diesem Krieg entzieht, soll unsere Unterstützung bekommen. Dass sich die Koalition, lautstark die GRÜNE Partei, mittlerweile einer „Real“politik unterworfen hat, die komplett auf die Anrufung und Stärkung der Vereinten Nationen verzichtet, eine Vereinheitlichung Europas in der Ukraine-Politik ausschließlich in der militärischen „Lösung“ sieht, vor der Blockade des Sicherheitsrates kapituliert, ist weder mit europäischen Werten noch europäischen und deutschen Interessen zu begründen. Welche Interessen verfolgt die Außenministerin der Koalition mit dieser Politik?
Egal wie dieser Krieg ausgeht, eines zeichnet sich unter all den Lügen und Halbwahrheiten ab: Das Märchen von der „Friedensmacht Europa sagt, ciao. Die nun in Gang gesetzten weltweiten Rüstungsanstrengungen werden die Menschheit bis ins nächste Jahrhundert begleiten. Das mit „Schuldzuweisungen“ zu begründen, ist angesichts der Tragweite, wie sagt man, ridiculous. Krieg um was auch immer, war und ist und wird niemals gerecht sein. Allerdings: Der Schaden ist schon jetzt nicht „gerecht“ verteilt.
Imperialistisch sind immer nur die anderen?
Wer sich mit den Kriegen Russlands beschäftigt, sollte sich mit den Besonderheiten befassen und auch Unterschiede herausarbeiten. In Syrien diente die Intervention Russlands dem befreundeten Assad Regime und verhalf dem, sich zu behaupten. Dabei gab Russland in der Region nicht nur dem „Kalifat“ den „Rest“ (da darf sich unser Mitleid in Grenzen halten) sondern zerbombte auf das brutalste und konsequent im Interesse Assads auch jeden freiheitlich motivierten Widerstand. Von einer „imperialen Eroberung“ Syriens kann jedoch wohl kaum die Rede sein.
Es sei daran erinnert, dass Europa separatistisch motivierte Konflikte auch andernorts kennt und es noch nicht so arg lange her ist, dass diese auch gewaltsam und militärisch ausgetragen wurden. Kein Zweifel, das ist Teil „imperialen Denkens“. Allein und ausschließlich Russland „imperiales Denken vorzuwerfen“, ist im besten Falle naiv, im schlimmsten aber, vorsätzliche Irreführung. Die Behauptung so etwas habe „die Welt seit 1945 nicht mehr gesehen“, kann nur aufstellen, wer mit verbundenen Augen und zugeklebten Ohren durch die Gegend läuft, oder die Ereignisse sehr einseitig interpretiert.
Die Aufteilung der Welt, also das, was als „Nachkriegsordnung“ bezeichnet wird, war ein ausgesprochen imperialistischer Akt, den die Akteure selbst gar nicht leugneten oder verbargen. Die Vorherrschaft in der Welt, die Rolle des „Weltpolizisten“ USA[6], unter Einschluss der Verbündeten begann 1945 und wurde in internationalen Verträgen und der Einrichtung internationaler Organisationen (Finanzen, Wirtschaft, Währung, militärisch und so weiter) manifestiert. Daraus resultierte die bekannte und gut untersuchte Aufteilung der Welt in „Interessensphären“. Die Auseinandersetzungen um die Interessengegensätze entzweiten die Siegermächte USA/Sowjetunion sehr schnell. Die USA waren auf lange und mit Abstand die wirtschaftlich und militärisch stärkste Macht des Planeten. Seitdem gibt es kein Jahr in der Geschichte seit 1945, in dem der „Westen“ angeführt von den USA, nicht bemüht war, seine „Interessensphäre“ nicht nur abzusichern, sondern diese auch auszudehnen. Das war bis in die 80iger Jahre seitens der USA von 18 Drohungen mit der totalen nuklearen Vernichtung „widerspenstiger“ Nationen begleitet.[7] Dabei wurden in den USA und den Ländern der EU übliche Standards an Demokratie, Sozialstaatlichkeit, Arbeitsrecht und so weiter, in anderen, abhängigen Ländern und Regionen, auf das brutalste zusammengeschossen. Widerstand wurde systematisch zerschlagen und da, wo dies nicht mehr gelang, alle verfügbaren Mittel der wirtschaftlichen Isolierung und militärischen Sabotage angewendet, um solche Regierungen zu schädigen oder zu stürzen.[8] [9] Die Lage für viele Völker und ihrer Staaten in weiten Teilen der westlichen Einfluss- oder Abhängigkeitssphäre ist, das ist wohl kaum zu leugnen, katastrophal. Die Hungerkrise hat sich Jahr für Jahr verschärft und ist in der Einfluss- und Interessensphäre Dauerzustand. Die Verschuldungskrise – ungelöst. Richtig ist, dass die imperiale russische Politik und die Eskalation zum Krieg, all diese bereits vorhandenen Krisen verschärft. Aber genauso ist richtig, dass der Ukraine Krieg nicht deren Ursache ist.
Hunger als Waffe?[10] Was war noch mal gleich in der Sahelzone, Biafra und so weiter und wo ist der Hunger aktuell virulent, wo dezimieren Seuchen die Bevölkerung, weil ihnen aus wirtschaftlichen Gründen die bekannten und wirksamen Medikamente vorenthalten werden? Wer ruiniert mit einer entsprechenden Wirtschaftspolitik lokale Märkte, wer fischt die Fischgründe leer und bekämpft dann die Piraterie militärisch? Wer betreibt den Raubbau am Amazonas, schreckt dabei nicht vor dem Mord der dort lebenden Einwohner zurück? Wer ist für den Klimawandel ursächlich verantwortlich? Wer hat die Ausrottung zahlloser Tierarten zu verantworten? Wer führte und führt rassistische Kriege? Die Liste ist hier kaum zu vervollständigen; Aber eines noch: Wer warf die ersten zwei Atombomben auf die Zivilbevölkerung des militärisch bereits geschlagenen Feindes? Wer häufte das größte Arsenal an Menschen-Massenvernichtungs-Waffen (ABC) an? Es gibt nur eine Antwort:
Wir, Wir, Wir!
„Wir“ steht für die politisch-soziale und kulturelle Verfasstheit unserer westlichen Gesellschaften und ihrer Verbündeten (die bekanntlich von Demokratie, über Monarchie, Diktaturen, bis brutaler Clangesellschaft alles einschließen, was man sich an Gesellschaften vorstellen kann). Nicht dabei (merke! Das war nicht immer so) zurzeit: China, Russland und Nord-Korea.
Die Frage ist doch, sind die GRÜNEN noch wahrnehmbarer Teil des Widerstandes gegen diese furchtbaren Missstände, oder sind sie bereits Teil des Schutzwalls der bestehenden Verhältnisse?
Die Wahrheit kommt ans Licht
… wenn auch manchmal langsam und scheibchenweise. Am 28.4. des Jahres konstatierte die profilierte GRÜNEN Expertin Constanze von Bullion, zum „Panzerstreit“, es gäbe Leute, und sie verweist auf GRÜNE Entscheidungsträger*innen, die beharrlich zu Hofreiters Forderungen schwiegen. Und sie vermutete, dass diese Entscheidungsträger*innen bereits im Hintergrund und möglichst ohne Staub aufzuwirbeln, an Panzerlieferungen arbeiteten. Das ist nicht nur an sich eine interessante Feststellung, sondern passt zu den Erfahrungen. Wir sollten uns angewöhnen, von den Ergebnissen her zu denken. Und die sprechen eine deutliche Sprache.
Die Waffenlieferungen werden kontinuierlich mehr und intensiver. Immer „durchschlagskräftigeres“ Material verlässt, wenn auch manchmal auf Umwegen, das Land. Von Diplomatie, humanitärer Hilfe hingegen, ist allenfalls als „Hirngespinst“ die Rede.
Wie eine Nachkriegsordnung aussehen soll (das Verhältnis zu Russland und Ukraine) oder ob wir erst einmal einen III. Weltkrieg überleben müssen, der auch im nuklearen Inferno enden kann, ist weder überlegt noch ganz von der Hand zu weisen.
Deutschland/Europa wird in tiefer in das Kriegsgeschehen, aller beschwichtigenden Worte zum Trotz, hineingezogen. Die stets gleiche Taktik besteht darin, die Dinge jeweils so weit im Stillen voranzutreiben, bis sie „alternativlos“ erscheinen, oder auch, sich selbst erfüllende Prophezeiung, tatsächlich alternativlos sind.
Während Bemühungen zu erwarten wären, China und Indien[11] dafür zu gewinnen, auf Russland einzuwirken, den Krieg zu beenden, werden die Töne gegen China eher schriller.
Wenn führende Politiker*innen des Landes behaupten, sie hätten weder die Möglichkeit zur Einflussnahme noch überhaupt Verantwortung für die zu beobachtenden Entwicklungen, dann ist tiefstes Misstrauen angesagt. Wenn dies von einseitigen Schuldzuweisungen gegen eine der Kriegsparteien begleitet ist, umso mehr. Unsere uneingeschränkte Zustimmung zur militärischen Konfliktlösung soll erlangt werden. Diese Zustimmung ist auf Delegiertenebene des Parteitages bei den GRÜNEN bekanntlich zu nun zu traumhaften und „realsozialistischen“ 95% erreicht.
[1] Gemeint ist nicht der Fluss, sondern die Republik Moldova/Moldawien.
[2] (Quelle: Die Grünen: Die Verwandlung des Anton Hofreiter – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)
[3] (ebd. SZ vom 28.4.22, Constanze v. Bullion)
[4] (Nordkurier, 23.11.2014)
[5] Siehe dazu Kurzinfo Völkermord an den Jesiden – Wikipedia
[6] Militäroperationen der USA und zu Vergleichszwecken der UdSSR/Russland
[7] Siehe dazu Jochen Hippler (Hrsg.), Amerika muss die Führung übernehmen, 1983, ISBN 3-88974-004,
[8] Beschäftigt euch mit der Geschichte Chiles, Nicaraguas, Kuba, Guatemala, Vietnams, des Kongo, Iran und viele mehr. In Kambodscha schaffte es die USA und Verbündete, sich auf die Seite des Massenmörders PolPot zu schlagen und diesem Regime über Jahre das Überleben zu sichern.
[9] Eine unvollständige Übersicht an Putsch und Putschversuchen an denen die USA mitgefingert hat, findet ihr unter Kalter Krieg: In diesen Ländern ging die CIA über Leichen – WELT (Die Welt ist bekanntlich kein kommunistisches Propaganda – Blatt wenn es beruhigt).
[10] Lies dazu Jean Ziegler „Wir lassen sie verhungern“
[11] Indien gilt als Demokratie westlichen Musters. Als solche werden Indien die katastrophalen sozialen Verhältnisse für die Bevölkerungsmehrheit nachgesehen. Indien ist Atommacht und lebt in immer wieder aufkommenden Streit mit Pakistan, ebenfalls Atommacht. Hunger Epidemien treten in regelmäßigen Abständen auf (Hunger als Waffe?).