„Überdenkst Du deine falschen und gefährlichen Worte?“

Diesen Beitrag entnehmen wir der Hagalil.com -Jüdisches Leben Online, mit freundlicher Genehmigung des Autors, Detlef zum Winkel

Ein Brief an Taner Akçam, Soziologe, Historiker und Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte des armenischen Genozids an der Clark University in Massachusetts, USA. Prof. Akçam war einer der ersten türkischen Wissenschaftler, die den Genozid an den Armeniern öffentlich thematisierten.

Lieber Taner,

vor kurzem kam ich mit einem jungen Mann türkischer Herkunft ins Gespräch, Thema Israel. Es war eine dieser Diskussionen, wie sie derzeit tausendfach geführt werden. „Gib zu, dass Israel Völkermord an den Palästinensern verübt“, forderte er mich wieder und wieder auf. Dann kam er auf Dich zu sprechen und war erstaunt zu erfahren, dass wir uns kennen. Ich wiederum war erstaunt, welche Wirkung ein akademisches Statement, eben Deines, entfalten kann und wie simpel es benutzt wird.

Mit zwei anderen Wissenschaftlern hast du im Sommer eine Erklärung von Scholars of Genocide publiziert und ein Krisennetzwerk von Holocaust-Forschern gegründet. Die Forderung: „Beendet den Völkermord jetzt.“ Der Vorwurf: „Die Welt sieht tatenlos zu.“ Das sei eine moralische und politische Kapitulation.

Damit bist Du zu einem Kronzeugen für die internationale Kampagne gegen Israel geworden. Diese Kampagne spricht Israel moralisch das Existenzrecht ab. Die Anschuldigung, einen Völkermord zu begehen, hat hunderttausende oder sogar Millionen von Menschen weltweit auf die Straße gebracht. Sie war das Schlüsselwort, das die Emotionen gegen Israel in offenen Hass umschlagen ließ. Dafür wird Dein Renommee als Wissenschaftler und Genozid-Forscher benutzt, wie auch das Renommee von vielen anderen Akademikern, Intellektuellen, Künstlern. Darum schreibe ich Dich an und appelliere an dein Verantwortungsbewusstsein.

Bitte beantworte die Frage, welcher Völkermord hat mit der Freilassung von zweitausend Gefangenen geendet? Welche anfangs systematische Aushungerung wurde von umfangreichen Hilfslieferungen an die Hungernden abgelöst? Auf welchen Krieg, der mit der Absicht geführt wurde, ein Volk auszurotten, folgten euphorische Versprechen eines künftigen Miteinanders in Frieden? Ist Dir ein Land bekannt, das einen Völkermord verübt hat, während abertausende Oppositionelle, ja die Hälfte der Zivilgesellschaft Woche für Woche versuchten, ihrer Regierung in den Arm zu fallen – und das zwei Jahre lang?

Es klingt zynisch, wenn ich feststelle, dass das palästinensische Volk nicht dezimiert worden ist. Allerdings rührt der Zynismus nicht von mangelnder Empathie, er kommt daher, dass menschliches Leid, zehntausendfaches Leid, hunderttausendfaches Leid, anscheinend nur dann noch Aufsehen erregt, wenn es mit dem ultimativen Fluch des Völkermords gebrandmarkt wird.

Dieser Fluch richtet sich heute gegen Israel, und er findet ein unfassbares Echo. In der Zeit, die du in Deutschland verbracht hast, wusstest du, was das bedeutet. Dass man sich sofort und unmissverständlich dagegenstellen muss. Bekanntermaßen dominieren an amerikanischen Universitäten andere Diskurse. Deshalb erinnere ich Dich daran.

Das Statement der Scholars war ein politischer Aufruf. Ihr jedoch habt eure wissenschaftliche Reputation benutzt, um dieser rein politischen Stellungnahme mehr Gewicht zu verleihen. Wenn sich das einbürgert, werden wir bald viele Völkermord-Anschuldigungen ohne wissenschaftliche Qualität und Präzision erleben. Meine Bitte: Versuche einmal, die Begriffe, Kriterien, Merkmale, die Du in deiner Arbeit über den Völkermord an den Armeniern entwickelt hast, auf den Gazakrieg anzuwenden. Dann wird sich herausstellen, was von Deiner, Eurer Erklärung der Scholars zu halten ist und was nicht. Und wenn etwas nicht zu halten ist, muss es zurückgenommen werden. Auch von Dir. Das ist mein Anliegen.

Der für mich gravierendste Fehler Eures Statements liegt darin, die Hamas nicht beim Namen zu nennen. Auch zu den iranischen Drahtziehern findet sich kein Wort. Ihr habt die Taten vom 7. Oktober 2023 pflichtschuldig ein Massaker genannt. Mit diesem Wort grenzt ihr ab, behandelt aber nicht das Thema. Mit archaischer Barbarei, pathologischer Perversion, Schwerstkriminalität hat die Hamas an jenem Tag die Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt, die sie jederzeit hätte abbrechen können, wenn sie ihre Geiseln freigelassen hätte, wie sie es dann viel zu spät getan hat.

Untersuchungen über Rassismus und Rechtsextremismus in Israel sind legitim, auch solche über mögliche Gefahren von Apartheid. Aber das war nicht die Ursache des Gazakriegs. Solche Untersuchungen können nicht zu objektiven Ergebnissen führen, wenn dabei ignoriert wird, dass der palästinensische Terrorismus jahrzehntelang bewusst darauf abzielte, ebendiese Tendenzen in self-fulfilling prophecy zu schüren.

Und vergessen wir nicht, welcher Politiker davon am meisten profitiert. Erdogan präsentiert der türkischen Jugend, die sich so oft gegen sein autoritäres Regime mobilisiert hat, ein neu-altes Objekt der Begierde. Opponenten, die ihm gefährlich werden können, sollen sich jetzt nicht mehr mit Inflation, Spekulation, kriminellen Gaunereien ihrer Regierung beschäftigen, sondern mit Israel und dem „Völkermord“. Solche Projektionen waren ein Erfolgsrezept der NSDAP. Du weißt das, und es lag ganz sicher nicht in Deiner Absicht. Aber die einseitige Erklärung der Scholars hat solche Entwicklungen befördert.

Überdenkst Du deine falschen und gefährlichen Worte?

Es grüßt Dich trotzdem herzlich,
Detlef

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